Moor
gemaltem Lippenfleisch und Schuhcreme auf der hochgeschnürten Brust.
Während die anderen für die Polonaise Aufstellung nahmen,führte Hannes den sogenannten Pogo vor, einen mit seinen beschwörenden Armkreisen dämonisch wirkenden Tanz. Stets bildete sich ein Respekthof um seinen gebeugt durch die Halle schlingernden Körper. Nur David Voss, der Löwe, stürzte manchmal im Hermelin seiner Mutter unvermittelt in die Arena und verbog sich, weniger aus Hingabe als vor Trunkenheit, in ähnlich ekstatischen Figuren, wurde aber schon bald von Hannes in die Ecke gepogt.
In den Jahren zuvor hatte dir stets Marga das Kostüm für den Ball geschneidert, oft in einem Rausch kühnster Ideen, so dass du schon zweimal den Preis für die beste Verkleidung gewonnen hattest. Doch mehr als den zerschlissenen Nikolausmantel, in dem dein Onkel alljährlich zum Adventsbazar erschien, hatte die Kiste im Keller der Lamberts nicht hergegeben; die besten Kostüme hatten sich bereits deine neuen Geschwister unter den Nagel gerissen. Die begehrte Trophäe ging an den hermaphroditischen Neger und seine orientalische Nutte.
Kaum jemand stand vor der Bühne, als der Schülersprecher zum Mikrofon griff. Die Menge hatte sich auf dem Schulhof versammelt, um das Blaulicht herum, das die Schatten der Hüte und Hexengewänder geisterhaft über die Wände jagte. Es hatte zu regnen begonnen. Als du dich durch die Besen, Schwerter und Schilder nach vorn gekämpft hattest, stieg David Voss gerade in den Rettungswagen, gestützt von einem Sanitäter. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, das Löwenfell lag am Boden. Zwischen dem Hausmeister und Knoor, dem Physiklehrer mit Clownsnase, stand Hannes. Wild gestikulierend erklärte er etwas, das Geplapper der Menge schluckte die Worte. Er hielt den Batman-Mantel in der Hand, aus seinen gefärbten Haaren sickerte die Farbe in dunklen Bahnen über sein Gesicht. Der Hausmeister machte eine wegwerfende Handbewegung, Knoor fasste Hannes am Arm und führte ihn zum Schulgebäude. Aus der Halle tönte die Fanfare. Auf halber Strecke drehte er sich um, und dir war, als schaute er direkt zu dir, ohne dass sein Blick dich suchen musste. Dann schnitt der Rettungswagen dazwischen. Durchs Heckfenster sahst du Voss auf die Pritsche gekrümmt. Dass Hannes deinem Peiniger eine Lektion erteilt hatte, erfüllte dich mit Genugtuung und einem fast schmerzhaften Gefühl der Verbundenheit.
Am nächsten Tag hieß es in der Schule, Hannes habe David Voss bei einer Prügelei die Schulter ausgekugelt. Der Achtklässler sei plötzlich auf den Älteren los, sagten die einen, umgekehrt, behaupteten andere. Jemand wollte die beiden zuvor auf der Tartanbahn gesehen haben, einvernehmlich einander zuprostend. Du musstest an die Momente denken, als sie auf der Tanzfläche zusammengeprallt waren; schon da hatte der Pogo einer Rauferei geglichen. Einmal war David mit Schwung gegen das Bühnenpodest gekracht, ähnlich, wie drei Monate zuvor Tanja bei eurem Gerangel im Badezimmer gestürzt war.
Das Getuschel auf dem Pausenhof verstummte, als Hannes am Tor erschien. Die Schüler bildeten ein Spalier. Du hast dich ein wenig vorgebeugt, aus der Reihe heraus, doch er schnitt dich. Beim Mittagessen wich er deinen Blicken aus, die ihn gegen den Vater verteidigen wollten, der einen Gewalttäter im Haus nicht dulde, auch die Mutter sprach jetzt von Internat; beim Bund, sagte sie, könne er sich austoben, aber solange er noch hier sei, herrsche Anstand und Respekt vor den anderen. Sie befahl ihm, am Nachmittag zum Haus des Zahnarztes zu gehen und sich in aller Form zu entschuldigen.
Warum tust du es nicht?, hatte Hannes gleichgültig erwidert, immerhin sei sie seine Mutter und verantwortlich für seine Erziehung. Karl Lambert beugte den schwerfälligen Leib in einer seltsam akrobatischen Verkrümmung von der einen zur anderen Stirnseite des Tisches; die Ohrfeige hatte auf dem langen Weg ihre Wucht verloren. Hannes grinste seinen Vater müde an, wandte sich dann an Marianne, siehst du, sagte er, genau das meine ich. Ole begann, stumm zu weinen. Noch am selben Tag hat Hannes die Bettwand geschwärzt.
Düsteres aber passte nicht mehr in Margas neues Konzept von Familie. Sie bestand auf Lichtgrün wie von jungen Birken, puffte dich zur Kasse und rührte einen Tag später die neuen Farben an, den Frühlingslook. Nach und nach hattest du deine Habseligkeiten aus dem Haus der Tante zurück in dein Zimmer geräumt. Während du nun stumm die Tünchrolle über
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