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Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
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ja bei Gelähmten von den Nerven, also den Gefühlen, abgeschnitten seien, trotzdem an entsprechender Stelle mit Blut füllen würden, stell dir mal vor, prustete sie herüber, er und ich verhakt mit den Rollstühlen, wer denn da oben, wer unten liegen beziehungsweise sitzen würde, und wie sie, Tanja, mit dem Typ dann Kinder machen solle, die ja trotzdem gesund sein könnten, so Gott will, rief sie der Pfarrersfrau zu, die vor Schreck die Brause verschüttete, ach herrje, stöhnte sie, ich bring’s neu. Aber küssen werde ich ihn bestimmt, triumphierte Tanja und drehte mit einer routiniert wirkenden Bewegung den Rollstuhl zurück vor den Fernseher.
    Im Programm begann eine Gewinnshow, Dalli Dalli, juchzte Tanja, ich liebe das! Dann verstummte sie für die nächste Viertelstunde. Eingesunken in das Gebirge der Sofakissen und mit Tanjas zuckendem, mattglänzendem Profil im Augenwinkel hast du das Quiz verfolgt, lange Minuten, in denen du weder etwas sagen wolltest noch musstest. Der Showmaster rief nach einem gewonnenen Spiel Spitze! , sprang in die Höhe und blieb in der Luft stehen, an dem magischen Punkt größter Leichtigkeit, den du bisher in deinem Leben immer verpasst hast. So hättest du mit ihr sitzen wollen; die ganze Nacht hindurch und jeden Abend aufs Neue.
    Die frische Brause brachte die Mutter nicht. Mitten in einem spannenden Spiel wandte Tanja plötzlich den Kopf und blickte dich erstaunt an, als sähe sie dich erst jetzt hier sitzen. Und du?, fragte sie, hast du auch schon mit Hannes geknutscht? In dem Wortsturm, der dir augenblicklich auf die Zunge drängte, hätte auch der vorlauteste und schlagfertigste Mund versagt. Der Moderator auf dem Standbild steckte mit Grimasse im Sprung fest, nach einem Schnitt stand er wieder an seinem Platz und quasselte weiter, dazwischen kein Torkeln oder Stolpern, nicht ein Moment der Unsicherheit. Tanja starrte wieder auf die Mattscheibe, schien ihre Frage längst vergessen zu haben, als du endlich den Kopf geschüttelt hast.
    Ich jedenfalls, sagte sie, werde ihn fragen. Hannes?, dachtest du erschrocken, trotz des luftigen Anlauts gelang dir die Frage nicht. Er heiße übrigens Marco, fügte sie hinzu. Bei der nächsten Gelegenheit frage ich ihn. Sie sprach nun leiser und dehnte die Worte, abwägend, ein wenig geheimnisvoll, als beriete sie ihren Plan mit dem Fernseher. Sie habe keine Zeit mehr, noch länger zu warten. Spitze!, rief Hans Rosenthal und sprang nach vorn, als wollte er Tanja umarmen. Das Publikum applaudierte.
    Ob sie jemals wieder würde laufen können? Von allen Fragen, die du dir vor deinem Besuch im Kopf zurechtgelegt hattest, schien das die schwerste, gefährlich und unüberwindbar, bis zu diesem Moment warst du dir sicher gewesen, an ihr zu scheitern. Jetzt aber kam sie dir fast ohne Stockung über die Lippen. Endlich schaute Tanja zu dir herüber. Der frische Schimmer auf ihrem Gesicht war erloschen, die Schminke wirkte nun stumpf, ihr Gesicht müde. Wenn du irgendwann nicht mehr stotterst, erwiderte sie, brach den Satz aber ab und setzte nach ein paar Sekunden neu an: Angenommen, niemand würde mehr weghören, wenn du sprichst, keiner mehr zu Boden blicken, weil er sich für dich schämt. Sie rollte zum Fernseher und schaltete ab, auf dem Höhepunkt des Spiels. Wenn dir auf einmal alle zuhören, sagte sie nunfast ein wenig drohend, hättest du dann überhaupt etwas zu sagen?
    In der plötzlichen Stille war das leise Knistern der auskühlenden Bildröhre das einzige und letzte Geräusch in dem stickigen, überpolsterten Wohnzimmer. Hinter all den aufgetürmten Kissen wirkte die Welt stumm, taub und bewegungslos. An ihrem Ausgang stand die Mutter, stemmte die Arme in die Hüften und rief: Es wird Zeit!, so dass du gar nicht anders konntest, als aufzuspringen und ihr ohne Abschiedsgruß an Tanja vorbei aus dem Zimmer zu folgen.
    Auf halber Strecke hörtest du sie hinter dir deinen Namen rufen. Sie war in den Flur gerollt, kramte nun umständlich in ihrer Hosentasche und streckte dir schließlich die Hand hin, nur für einen Augenblick, doch lange genug, um darin die Tonscherbe eines Dachziegels zu erkennen. Am Ende der Diele klinkte Frau Deichsen die Haustür auf, kalte Luft strömte herein. Beim letzten Blick zurück nickte Tanja dir zu wie schon damals vor der Klassenzimmertür, als du mit dem Referat im Ranzen noch mit deiner Angst gerungen hattest, Tanja aber bereits wusste, dass du auch dieses Mal schweigen würdest.
    Und jetzt? Hatte Marga

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