Moor
tatsächlich atemberaubenden Schneespektakel erhaschen wollte, der Ziegel herabgestürzt sei, der Zieeegel!, rief er immer wieder gegen das Dröhnen der Rotorblätter an, die das unglückselige Wort mit dem wehklagenden Vokal hinaus in die Nacht peitschten, so dass er die Geschichte von neuem begann, bis Marianne ihn mit einer Ohrfeige zum Schweigen brachte und der sich in die Luft schraubende Helikopter über dem Heidedamm einen kurzen, heftigen Schneesturm entfachte, der wie im Zeitraffer noch einmal die ganze Gewalt dieses Nachmittags über euch wegfegte, hinaus in die sanft gewellte Nachtlandschaft, die zuvor noch friedvoll und unberührt unterm Schnee geschlummert hatte, nun aber schon von ersten Spuren zerstört wurde, Fußstapfen, die sichjetzt, da die Dörfler zurück in ihre Häuser trotteten, zu Kreisen und Schleifen ausweiteten, in deren Mitte Hannes stand, mit hochgezogenen Schultern, hängendem Kopf und einer Tränenspur auf der Wange, die bereits gefror.
Als die Vorabendnachrichten begannen, wagtest du endlich die Frage, auf der du eine Viertelstunde lang stumm herumgekaut hattest: Wie ihr die neue Schule gefalle?
Tanja zuckte die Achseln, schaufelte sich eine Handvoll Fruchtgummi in den Mund und reichte die Tüte an dich weiter. Die Süßigkeiten lockerten deinen verkanteten Kiefer, waren wie weiche, auf der Zunge schmelzende Vokale, langsam beruhigte sich dein Herzschlag, ihr schiefes Grinsen löste den Starrkrampf in deinem Körper. Und deine Mitschüler?, hast du mit dem zuckrigen Film auf der Zunge geschnalzt. Ich bin da noch die Fitteste, lachte sie, da sind Kaliber dabei, das glaubst du nicht. Sie imitierte die unkontrollierten Schleuderbewegungen eines Spastikers, machte dann auf einen ohne Arme, indem sie die Fäuste in den Ärmeln verschwinden ließ und die Ellenbogen an die Flanken presste, viele sind Unfallopfer, sagte sie, und mehr als die Hälfte im Rollstuhl, da brauche sie etwas Fetzigeres als diese olle Krücke, wenn sie bei den Jungs punkten wolle, und sie boxte gegen ihr plumpes Gefährt.
Du spürtest ihre Zuversicht, das listige, ein wenig spöttische Verzeihen und Vergessen, das in jedem ihrer Worte mitschwang, ihr Lächeln jetzt schalkhaft, herausfordernd, die blau entzündeten Augen ruhten ohne Lidschlag auf dir, wacher als jemals zuvor. Endlich gelang auch dir ein Lächeln.
hBei hden hJungs?, hast du wiederholt und schnell in die Tüte mit dem Süßkram gelangt, die Konsonanten drohten schon wieder zu klumpen. In deiner Vorstellung war diebehindertengerechte Schule im Süden von Hamburg bisher ein Mädcheninternat gewesen; Jungs in deinem Alter, womöglich ganz ohne die Verzerrungen im Gesicht, die du von Jakob Wendisch kanntest, Hannes- und David-Voss-ähnliche blonde Halbstarke, die alle im Rollstuhl durch die breiten Schulkorridore kurvten und in der Turnhalle einen Räderfußball hinlegten, wie du es mit gesunden Beinen nie zustande gebracht hättest, wahrhafte Konkurrenten zu dir, zu Hannes, zu welchem Kerl im Dorf auch immer, waren in deinen Hoffnungen, die du an Tanjas neue Bleibe knüpftest, nicht vorgekommen, hatten dort nichts zu suchen gehabt.
Sie rollte dichter an dich heran, ihr Gesicht jetzt spitz, ein wenig mäusisch, mittlerweile kanntest du den Ausdruck, wenn sie dir ein Geheimnis stecken wollte, irgendeine verbotene Geschichte. Die Mutter kam ins Zimmer, räusperte sich, sie, Tanja, sagte sie in deine Richtung, ohne dabei deine Augen zu suchen, müsse sich vor der Abendvisite des Hausarztes noch ein wenig ausruhen.
Tanja bestellte Limonade, beiläufig und unwirsch, wie man eine störende Bedienstete des Zimmers verweist. Frau Deichsens Gesicht wurde erst rotfleckig, dann sehr bleich, bevor sie mit einer eckigen Drehung abzog. Kaum eine Minute später brachte sie Gläser und eine Flasche Zitronenbrause, die sie auf einem Tablett servierte, zusammen mit zwei Stück Marmorkuchen, was Tanja mit einem Augenrollen kommentierte, außerdem die Stimme anhob, die bis eben noch geflüstert hatte, von einem querschnittsgelähmten Neuntklässler, der nur seinen Kopf bewegen könne, wirklich nur das Gesicht, hatte sie geseufzt, das aber sei eine Wucht, umrahmt von dunklen Locken und mit schwarzen Augen wie Kohlen, beschwor sie nun das Bild ihres neuen Schwarms herauf, während Frau Deichsen umständlich die Servietten faltete unddie Limonadenflasche öffnete, vielleicht ist er Halbitaliener, sagte sie, oder mit spanischem Blut in den Adern, und ob sich diese Adern, die
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