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Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
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stürzen. Irgendwann bist du auf dem Bett gelandet, wo du gerade noch Margas Mund an deinem Hals spürtest, kalt wie von einem Fisch. Mein armer Liebling, blubbertesie aus der Tiefe, dann hat sie dich gefressen, oder du bist eingeschlafen.
    Du durchtauchst mit der Hand das Wasser, suchst den Abflussstopfen und wickelst die Metallschnur um den Finger; für einen Moment lockert sich der Pfropf, dann schnappt er im Sog zurück. Nur ein Ruck mit der Hand, und du bist unten bei mir, im Rohrmaul, im Fischbauch, am Ende deiner Geschichte. Du streckst dich aus und tauchst bis zum Kinn ins Wasser. Knie und Schultern bilden Inseln, die langsam, doch stetig versinken. Du spannst Bauchdecke und Oberschenkel an, stellst dir vor, wie das Moor dich einschließt. In deinem Kopf rast der Film: Hannes, der plötzlich über dir steht. Dicht neben dir schreien die Stoppelkatzen und winden die Köpfchen aus dem Morast, du reißt dich hoch und siehst die Mooskuppen aus dem Wasser ragen, kleine finstere Buckel, über die ein großer Vogel schneidet. Ein Kranich? Als er näher kommt, erkennst du die Sumpfohreule, den Dämmerungsvogel, dem du hier draußen erst begegnest, wenn du den letzten Baum hinter dir gelassen hast und ins Leere trittst. Er brütet in den Seggen und stößt, sobald du dich näherst, einen Warnruf aus, der wie das Maunzen einer Katze klingt. Der Eulenschatten gleitet über das Wasser auf dich zu, dreht dann aber ab und steigt in den Himmel, wo er verlischt. Auch Hannes erstarrt zum Überrest einer Birke am Ufer. Darüber klafft ein Schlitz in den Wolken, ein krankes, todgeweihtes Blau; Tanja lächelt ein letztes Mal. In ihren Augen blitzt etwas wie Stolz; sie weiß, dass es so richtig ist – du hier unten, sie dort oben; so und nicht anders.
    Der Gedanke ertrinkt, kein neuer kommt. Erleichtert lockerst du die Muskeln und übergibst dich dem Sinken, dieser letzten, unendlichen Bewegung, weich, fließend, imRhythmus deines langsam aushauchenden Atems, wie ein Satz ohne Stottern. Wenn du ihn ausgesprochen hast – und das ist dein letzter Gedanke, bevor du den Stöpsel ziehst – sind wir eins.
    Du hast sie gar nicht kommen hören. Bis soeben glaubtest du noch, Libellen summen im Flug. So war es immer gewesen: der schwarze Punkt des Insekts in der Luft noch weit entfernt, da schaust du schon rum und hoch. Die anderen hören ein Auto auf der Dorfstraße, du aber siehst die Libelle aufs offene Fenster des Klassenzimmers zufliegen und denkst: Achtung, Falle! Nun sitzt sie da und starrt dich an, reglos und schön, ganz in Rot. Es ist eine Blutrote Heidelibelle, wie du an der Färbung des Hinterleibs erkennst, als trüge sie ein enges, rubinrotes Kleid. Selbst die Stirn, die nicht wie beim Menschen über den Augen sitzt, sondern darunter, ist rot gefärbt, sogar der Mund, bei der Libelle die Mundwerkzeuge, wie mit Lippenstift bemalt oder dem Blut eines Opfers.
    Genaugenommen hast du sie weder gesehen noch gehört, eher mit deinen Fühlern erspürt – die Druckwelle in der Luft, die Schwingung ihrer Flügel, und dass sie ein Männchen sucht. Bei den Libellen kommen die männlichen Tiere als Erste ans Gewässer und besetzen das Revier. Erst wenn sich genug mögliche Partner eingefunden haben, folgt das Weibchen, um auszuwählen.
    Sie hat sich Zeit gelassen, dich vielleicht sogar schon den ganzen Tag beobachtet. Während du noch deinen Platz gesucht hast, hatte sie dich schon längst anvisiert. Jetzt musst du dich beeilen. Dich ihr behutsam, aber zielsicher nähern, in eindeutiger Absicht. Bei den Libellen ist die Sache komplizierter als beim Menschen. Der Samen des Männchens wird vom Geschlechtsorgan am Ende des Hinterleibs produziert, was beim Menschenmann vielleicht die Hoden wären, der sogenannte Begattungsapparat, eine Art Penis, befindet sich jedoch viel weiter vorne, unterhalb der Brust. Du musst also erst deinen Hinterleib heraufkrümmen, so dass dein Körper eine Art Rad bildet. Wenn du jetzt noch ein Mensch wärst, sähe es aus, als wolltest du dein eigenes Geschlecht in den Mund nehmen. Doch auch dieser Vergleich hinkt; die Mundwerkzeuge kommen bei dieser Art Liebe gar nicht zum Einsatz. Libellen küssen nicht erst, sie tun es gleich.
    Du fasst dich unten an und biegst dich empor, bis du das Rad schaffst. Sie sitzt noch immer da und beobachtet, wie du den Samen vorbereitest. Sobald du genug angesammelt hast, stößt du dich in die Luft. Schraubst dich in die Höhe, schnellst auf sie zu und packst sie mit den Zangen

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