Moor
den Tieratlas aufgeblättert und den Fisch betrachtet, sein Anblick lockte dich wie etwas Verbotenes und Geheimes, das aber nun vollzogen und entschlüsselt werden wollte. Nachdem Marga dir den Gutenachtkuss aufgedrückt und die Tür geschlossen hatte, hast du die Lampe wieder angeknipst, das Buch unterm Bett hervorgezogen und den Rochen studiert. Je länger du mit Blicken in ihn eindrangst, desto deutlicher traten aus seinem Inneren Margas Züge hervor. Als du vor Müdigkeit schon zu blinzeln begannst, schien es keinen Zweifel mehr zu geben: Das Mädchen im Rochen war deine Mutter, und auch David Voss musste davon etwas geahnt haben, als er damals im Kindergarten den weißen Plüschfisch im Klo versenkt hatte.
Weil Marga das Wasser liebt, jeden Morgen im Teich und abends in der Wanne ausgiebig badet, glaubtest du, die Lexotax würden bewirken, dass sie sich langsam zurück in das Mädchen von früher verwandelt. Nun begriffst du auch, warum das Wasser des Teiches sie angeblich verjüngt. Ihre Behauptung war also nicht nur eine Taktik, um dich auch beischlechtem Wetter raus in die Kälte zu schleppen. In Wahrheit lockte sie das Kind, das lange Zeit im Rochen gelebt hatte. Doch wie war es in seinen Bauch gekommen? Tagelang hast du über das Rätsel nachgedacht. Dann plötzlich, spätabends über der Kladde brütend, wo die Geschichte langsam Form annahm, kam der Geistesblitz: Das Mädchen musste einmal eine Libellenlarve gewesen sein. Libellen, ihre Eier und Larven nämlich stehen auf dem Speiseplan der Fische an erster Stelle. Oft hast du abends am Jummestrand den silbrigen Leib einer Barbe oder Brasse im Sprung nach einem der pfeilschnellen Insekten in den Fluss zurückplatschen sehen. Endlich wusstest du, was der wahre Grund für deine jahrelange Angst vor dem Kloloch gewesen sein musste: Im Rohr lauerte der weiße Rochen, der irgendwann vom Meer die Elbe herauf und durch die Mäander der Jumme bis nach Fenndorf geschwommen war und deine Mutter hierher verschleppt hatte, weil er im Moor keinen Fischer fürchten musste, der sie, Marga, ihm hätte stehlen können. Vom Fluss aus war er dann weiter durch den Drängraben bis in den Torfstich, wo er sich mit ihr versteckte. Doch er hatte nicht mit deinem Vater gerechnet, dem der Fisch bei der Arbeit zwischen die Finger geriet. Ihm hatte er Marga herausgeben müssen, aber jetzt wartete der Rochen irgendwo in den Abflusskanälen, bereit, sie zu sich zurückzuholen. Schaudernd hast du damals die Kladde mit der halbfertigen Geschichte zurück in die Bettritze geschoben, die dir tiefer und wissender vorkam als jemals zuvor. Über einer Frage aber konntest du lange nicht einschlafen: Wie war die Larve einst ins Meer gekommen, wo auf dem Grund alles Mögliche lebt, aber nicht die Kinder der Libellen?
Auf dem Beipackzettel, den du aus der Verpackung ziehst, steht nichts von alldem: Lexotax ist laut des Herstellers Hoffmann-La Roche , wie du gleichermaßen enttäuscht wie erleichtert liest, ein Mittel gegen Spannungs-, Erregungs- und Angstzustände, Nervosität, innere Unruhe, Schlaflosigkeit und depressive Verstimmung, also gegen alles, was du an deiner Mutter nicht magst. Du drückst eine Tablette aus dem Streifen und hältst sie, zwischen Zeigefinger und Daumen geklemmt, ins Licht. Deutlich erkennst du die feinporige Oberfläche, die Kerbe in der Mitte und dahinter, wie durch ein zerbrochenes Brennglas, dich selbst, wie du am gestrigen Abend in ihrem Schlafzimmer standest, wo die Blister auf dem Bett verstreut lagen, als hätte sie gleich alle Tabletten auf einmal schlucken wollen, eine ganze Handvoll, was sie sich aber im letzten Moment doch anders überlegt haben musste. Du weißt noch genau, was du dachtest: Wenn die Geschichte aus deiner Kladde einen wahren Kern hat, müsste das Zeug dich, das Moorkind des Mädchens im Rochen, mit der Zeit zur Libelle ummodeln können.
Tatsächlich fühlte sich dein Körper schon leichter an, nachdem du eine Pille geschluckt hattest, als wären die unsichtbaren Fäden durchtrennt, die dich am Boden halten. Alles war in die Ferne gerückt: die Wände, die Möbel, deine eigenen Füße; dein Körper schien oben eingeschrumpft und hatte sich gleichzeitig nach unten hin verlängert, zu einer Art Stab, wie ein Libellenleib. Dir war, als schwebtest du über den Dielen, zwar nur wenige Millimeter, aber immerhin. So bist du Runde für Runde durchs Haus. Wenn du die Arme ausstrecktest, glaubtest du, zu sinken und gleichzeitig nach oben zu
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