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Moor

Moor

Titel: Moor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunther Geltinger
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hat: Du warst ein verängstigtes Kind, dem sie in diesem Moment riesenhaft und bedrohlich erschienen sein muss, obwohl kaum vierzig, doch bereits aus der Form gegangen wie ein altes Weib, in ihrem speckigen Morgenrock und den Filzpantoffeln, mit denen sie aus dem Haus gestürzt war.
    Sie kam noch näher, packte deinen Kopf und presste ihn in ihre nach Sauerteig riechende Achselhöhle, als solltest du im harschen Laub die Reifenspuren nicht sehen, die abtransportierte Trage, Margas von Erbrochenem verklebten Mund mit dem Beatmungsschlauch darin, ein Bild wie der Splitter eines zerschlagenen Glücks, der sich bereits tief in deinen Körper gebohrt hatte und dort alles abzutöten begann, denn spätestens diese Nacht, heißt es in deinem Buch, sei der Beginn einer langen, vielleicht lebenslänglichen Kälte gewesen. Aber ist Kälte überhaupt ein Wort für den Zustand, in dem du seither erstarrt bist?
    Der Frost jedenfalls war früh hereingebrochen, nach den Stürmen, die meist um den Reformationstag herum von Norden kamen und das letzte Laub aus den Bäumen fegten, Blätter, so porös, dass sie am Boden zerbrachen, und du hörtest das Geräusch, zogst den Kopf aus der Umarmung der Tante und sahst ihr vor Schreck oder heimlicher Genugtuung verzerrtes Gesicht vor dem bläulichen Schein am Horizont, der nicht verglimmen wollte und vielleicht schon das erste Morgenlicht war, verfangen im Gezweig der Weide, die eben noch im Wind gewippt und letzte Blätter abgeschüttelt hatte, nun aber die Äste nackt in die Höhe streckte, als zerrte der Baum die Stille herab, um sich zu bekleiden; und tatsächlich: Es begann zu schneien.
    All das sind heute unscharfe Konturen, zögerliche Striche auf der Skizze zu einem Bild, das du nun zu Ende bringen musst, von dem du aber nicht weißt, wohin es führen und warum gerade du es fertigstellen sollst. Marga selbst könnte es gemalt haben, in der ihr eigenen Technik, die nie eine konkrete Form und selten eindeutige Farben zuließ. Sobald sich etwas auf der Leinwand abzeichnete oder eines ihrer selbst angerührten Pigmente sich mit einem anderen zu einer Farbe vermischte, die ein Kind dieser Gegend wiedererkennen könnte, jeden deiner im Kopf entstehenden Gedanken an etwas, das du kanntest oder liebtest, verwischte sie mit dem Schwamm oder schmierte schnell eine neue Schicht auf die Leinwand.
    Du erinnerst dich, wie du manchmal ungeduldig und sogar wütend wurdest, wenn du ihr beim Malen zuschautest, während du so tatst, als wühltest du im Gerümpel: Sie sei wie eine Zauberin gewesen, die dir Spielzeug hinhielt, das sie dann mit einem Zwinkern in ihrem Ärmel verschwinden ließ. Wahr ist, dass dein Kinderspiel nicht mehr zog. Noch an einem der Abende zuvor hatte sie trotz Kälte im Negligé und rauchend auf der Veranda gestanden, du vor ihr mit Wollgrasbüscheln in Haar und Mund. Wenn du nicht wärst, sagte sie, würde ich Schluss machen mit allem, und du hattest ärgerlich mit den Schultern gezuckt und dir die Moormaskerade vom Gesicht gerissen; alles schien dir genauso wenig eine Farbe wie Schwarz oder Weiß, alles war nichts, leer wie ihre Bilder oft blieben oder zugeschlammt von Gemischen, in denen sie am Ende versackten.
    Aber genau das hatte sie ja gemeint: ihren Kampf mit dem Malen, das für sie tatsächlich alles zu bedeuten schien, auch ihre Arbeit in Hamburg, wo sie nicht mehr hinging, weilsie, wie sie behauptete, krankgemeldet war, obwohl sie dir nicht krank erschien, nicht wie von einer Grippe. Was diese Krankheit in Wirklichkeit war, solltest du erst viel später begreifen, auch dass man sich wegen so etwas gar nicht krankmelden konnte, damals jedenfalls noch nicht. Damals dachtest du noch, sie hätte vielleicht endlich das Rauchen aufgeben wollen, denn sie starrte in diesem Moment angewidert auf die Zigarette und drückte sie aus, doch solche Sprüche kanntest du schon: Ab morgen ist Schluss damit, und dann, zack, die nächste Fluppe. Oder war es doch die öde Hausarbeit, die ewigen Zahnpastaspuren im Waschbecken und das Kochen für dich? Es hatte in den Wochen zuvor keinen Allestopf mehr gegeben, nicht einmal Pellkartoffeln, nur Butterbrote mit viel Zimt. Darauf hatte sie noch immer Lust. Alles Mögliche hast du in Erwägung gezogen, nur das nicht: Blaulicht, Sanitäter, die Kotze in deinem Bett, die noch tagelang aus der Matratze stank und deine Nächte in Wüsten verwandelte, sauer, voll abgestorbenem Leben, du schreibst: wie das Moor.
    Sie hat dir dann doch noch ein

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