Moor
deine Faust an dem Insekt vorbei, das im Flaum auf seinem Nabel zappelte, direkt hinein in den Hosenbund. Das Stück Fleisch in deiner Hand war groß, aber weich und lappig. Jakob stieß einen hohen, vogelhaftenWarnruf aus, bog deinen Arm zurück und schleuderte dich zu Boden. Dann stolperte er weg, unter jammernden Lauten ins sirrende Gedräu des Stechgeziefers über dem Schilf.
Du bist hoch und ebenfalls rein ins Geschlinge, blind voran durch die Peitschenhiebe der Rohrkolben im Dauerlauf nach Hause, mit vom Mückenmatsch schwarz besprenkelter Haut und loderndem Schamgesicht durch die plötzlich kühl vom Fluss heraufziehende Abendluft auf die Veranda und direkt hinein in Margas übellauniges Gemaule, die schon ungeduldig am Tisch saß, vor dem kalt gewordenen Eintopf. Selbst schuld, kaute sie, als du vor Jucken und Zwicken kaum den Löffel in der Hand halten konntest; mehr hatte sie zu deinen verstörenden Erlebnissen am Jummestrand nicht zu sagen, und auch den Rest des Abends prallten deine flehenden Blicke meist an ihrem Rücken ab, so dass du alles, was du ihr zitternd und zerstochen, doch irgendwie glücklich von diesem Tag hättest hinstottern wollen, schließlich in deine Kladde gekritzelt hast, nachdem du das Drängende deiner Gedanken endlich aus dir heraus und in die Ritze gefiebert hattest.
Du packst dich noch fester an. Seifst die Handhöhle nach, die so gut geschmiert den fehlenden Körperschlund besser ersetzt als die frigide Bettspalte. Beißt die Zähne zusammen, als die weißen Fäden zäh das Wasser durchwabern. Das Seifenstück springt aus den Fingern und über die Fliesen gegen das Regal, wo Margas Kram sich häuft, all die Tiegel mit Parfums und Puder zwischen Medikamentenschachteln, Kosmetiktüchern, Monatsbinden, Dingen, die schon so lange dort liegen, dass du Details kaum mehr wahrnimmst. Der Dunst hat sich ein wenig gelichtet, im Spiegel erkennst du vage den Umriss deines Gesichts, die Haare seitlich schonfast kinnlang, weil Marga nicht mehr mit der Schere randarf; dein Ziel ist eine Matte wie bei Hannes, mit Stirnfransen und im Nacken leicht ausgeschert, was verwegen aussieht, doch am Rotblond der Kinder deines Onkels wirst du trotz aller Mühen scheitern. Lediglich ein paar Sommersprossen kriegst du mit deinen Lambert-Genen hin, wenn du im August lange genug in der Sonne ausharrst.
Sonst ist im Spiegel alles wie gehabt. Dennoch kannst du das Gefühl nicht abschütteln, dass zwischen dem heutigen Morgen am Teich und diesem Moment eine lange und leere Zeit liegt, eine Art blinder Fleck in der Erinnerung, als hättest du tagelang geschlafen. Oder waren es Monate und Jahre? Fern und unbegreiflich erscheint dir jetzt der Junge auf dem Baumstumpf, der du am Morgen noch warst, fast schämst du dich für ihn, wie er dort hockt, auf ein Wunder wartet und zur Mutter hinüberfleht, mit den Fingern im Moos. Was er fühlte und dachte, ist dir fremd geworden. Als hättest du dich heute Morgen für immer von ihm verabschiedet, möchtest du ihn an dich ziehen und gleichzeitig wegstoßen. Du beugst dich aus der Wanne und angelst Margas Tabletten aus dem Fach. Drehst die Packung zwischen den Fingern und betrachtest die Aufdrucke: den Namen des Medikaments, Lexotax, daneben die blaue Raute, eher ein Sechseck, und das Gleiche nochmal in Weiß mit dem Wort Roche darin, das du früher immer gelesen hast, ohne seine Bedeutung zu begreifen. In Gedanken hast du R-o-c-h-e buchstabiert und an Rochen gedacht, den platten Fisch auf dem Meeresgrund, wobei du nicht verstandst, was der Fisch mit den Tabletten deiner Mutter zu tun haben soll. Dann hast du in deinem Naturlexikon das Kapitel über das Tier gesucht und das Bild eines Rochens entdeckt. Sein Körper war weiß, fast durchsichtig, Skelett und Innereien schimmerten einwenig durch die Haut. Auch das Gehirn war als ein Schatten zu erkennen, darin die beiden Augen, die der Rochen, weil er als Plattfisch genaugenommen keinen Kopf hat, auf dem Rücken trägt. Auf der Fotografie fiel das Licht schräg ins Wasser, und wenn du das Tier lange genug anstarrtest, bis die Konturen verschwammen, bildeten Augen und Gehirnschatten zusammen mit der Linie des Rückgrats und den dreieckigen Schemen der Verdauungsorgane die Gestalt eines kleinen Menschen, eines Mädchens in einem weißen Kleid.
Da hast du das Buch schnell zugeschlagen; nun glaubtest du zu wissen, was das Wort Roche in der weißen Raute auf der Lexotax-Packung bedeutet. In den Tagen darauf hast du immer wieder
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