Moorehawke 01 - Schattenpfade
weniger Wochen eine sichere Niederlage in einen glorreichen Sieg um.«
Christopher stieß ein bewunderndes Brummen aus, und Wynter wandte sich wieder Rory zu. »Bald darauf starb der arme Rory«, fuhr sie fort. »Er war erst dreiunddreißig, genauso alt wie Vater heute.«
»Lorcan muss damals ja ganz schön jung gewesen sein.«
»Siebzehn.«
Immer noch beachtete Rory die beiden nicht im Geringsten. Er schien auf etwas zu warten.
Wynter war noch immer überrascht, ihn hier zu sehen. Abgesehen davon, dass diese Räume nicht zu seinem üblichen Wirkkreis gehörten, hatten Lorcan und Shearings Geist in der Vergangenheit nie miteinander verkehrt. Ja, Wynters Vater hatte sogar oft versucht, sie von ihren regelmäßigen Besuchen der Allee, auf der Rory spukte, abzubringen.
Die Toten sollten tot bleiben, meine Kleine. Du verzögerst nur
seinen Aufstieg in den Himmel, indem du ihn ermunterst, länger hier unten zu verweilen.
Doch dickköpfig, wie sie nun mal war, hatte seine sanfte Missbilligung sie nicht davon abgehalten, zu ihrem sehnsüchtigen Spielgefährten zurückzukehren. Wynter wusste, dass sie ehrlich mit sich sein musste: Es konnte nur einen Grund für die stille Wache des Geistes am Krankenbett ihres Vaters geben.
»Rory«, flüsterte sie mit Tränen in den Augen. »Bist du hier, um …«
Lorcan stöhnte im Schlaf, und Wynter hörte ihn ächzen, sie wusste nicht, ob vor Furcht oder Schmerz. »Vater?«, fragte sie zaghaft, die Finger in das Fußteil des Bettes gekrallt. Geist und Mädchen beugten sich leicht nach vorn, als sich der Atem des großen Mannes im Bett beschleunigte und er sich unruhig hin und her wälzte.
»Haltet ihn auf!«, schrie Lorcan so plötzlich, dass Wynter zusammenfuhr. »Aufhören!« Er schlug die Augen auf. Rorys Geist lächelte, und Lorcan sah ihn fragend an. »Rory«, flüsterte er. »Ich habe von dir geträumt.«
»Ja, das hast du.« Rorys Stimme war fein wie Schnee, der auf Schnee fällt, so zart, dass man sich beinahe einreden konnte, sie nicht gehört zu haben.
Nun entdeckte Lorcan auch Wynter, die schweigend und mit großen Augen am Fußende des Bettes stand. »Mein kleines Mädchen«, flüsterte er, offensichtlich beunruhigt, sie hier zu sehen. Er warf einen kurzen Blick auf Christopher, dann wandte er sich wieder dem freundlichen Geistergesicht zu. »Oh, Rory«, sagte er leise, »ich bin noch nicht bereit!«
Rory Shearing schüttelte den Kopf. »Dafür bin ich nicht zuständig«, lächelte er.
Lorcan stieß ein zitterndes Seufzen aus. »Dem Himmel sei
Dank!«, sagte er, und Wynter schloss die Augen und ließ erleichtert den Kopf sinken.
»Was willst du dann?« Das war Christopher, seine Stimme klang hart und misstrauisch.
Lorcan sah ihn stirnrunzelnd an, doch Rory nahm immer noch keine Notiz von ihm. Für Rory gab es Christopher überhaupt nicht, und wahrscheinlich gab es im Augenblick auch Wynter nicht. Es gab nur Lorcan.
»Der Junge«, begann er. Er wedelte mit den Armen, versuchte, sich zu sammeln. »Jonathons …« Seine Stimme verlor sich, wortlos starrte er Lorcan an, die Hände reglos in der Luft schwebend.
Wynter stöhnte. Sie hatte ganz vergessen, wie anstrengend Gespräche mit Geistern waren. Sich mit ihnen zu unterhalten war, als wolle man Wasser in den Händen auffangen, immer wirkte es, als wären sie zu abwesend, um bei einer Sache zu bleiben. Die meisten beschränkten sich daher nach einer Weile auf eine einzige Beschäftigung. Wie Heather Quinn auf ihre Besessenheit vom Tod, oder der Hungrige Geist auf seine Besessenheit vom Essen. Doch Rory gab sich größte Mühe, das sah man ihm an.
»Jonathons Junge?«, fragte Lorcan. Er blieb ganz still, um die Bemühungen des Geistes nicht zu stören. »Welcher seiner Jungen? Meinst du Alberon? Den Jüngeren? Den weißen Jungen?«
Jetzt schloss Rory die Augen und schwankte einen Moment lang wie ein Schilfrohr, abwechselnd verblasste seine Erscheinung und wurde dann wieder schärfer. »Jonathons Junge«, flüsterte er, als erinnerte er sich an einen Traum. »Er versteht nicht … Nur Papier. Nur … Gedanken.«
Christopher grummelte ungeduldig, und wie aus einem Munde hießen Lorcan und Wynter ihn still sein.
Rory schlug die Augen wieder auf und sah Lorcan an. »Die Männer«, sagte er plötzlich sehr deutlich, seine Stimme klang beinahe wie eine echte. Bestürzt teilten sich Lorcans Lippen, er hing an Rorys beschwörendem Gesicht. Diese zwei Worte schienen große Bedeutung für ihren Vater zu
Weitere Kostenlose Bücher