Moorehawke 01 - Schattenpfade
Nun fragte sich Wynter, ob Razi überhaupt noch Gelegenheit dazu bekäme. Sie widerstand dem Drang, ihren Vater
noch einmal zu bitten, zurück in ihr Quartier zu gehen. Beim letzten Mal hatte er etwas gereizt reagiert.
»Ich hasse diese andauernde Angst. Ich wünschte, ich könnte mich nur einen Augenblick ruhig hinsetzen und nachdenken«, fuhr er jetzt fort. Er hatte also doch nicht seine Krankheit gemeint.
Auf seine versonnene Art betrachtete er wieder die Decke über sich, seine Augen tasteten den Stein ab, als entzifferte er Sanskrit. »Ich hasse es, unentwegt den Handlungen anderer begegnen zu müssen«, sagte er nun. »Es kommt mir vor, als hätte ich die vergangenen fünf Jahre nichts anderes getan: Immer nur begegnete ich den Handlungen anderer. Keine Zeit, selbst etwas zu planen, keine Zeit, eine Gegenwehr zu errichten, bevor die Welt aus den Fugen gerät und wir wieder heimatlos sind. Ach, Wynter!« Unversehens stöhnte er auf, legte sich die Hand aufs Gesicht, und zum ersten Mal in ihrem Leben hörte Wynter Mutlosigkeit in der Stimme ihres Vaters. »Ich bin zu müde für so etwas. Ich bin einfach …« Er holte tief Luft.
Sie musste sich auf die Lippe beißen. Doch als sie ihm tröstlich die Hand auf die Brust legte und den Mund öffnete, um zu sagen: Ist schon gut. Lass uns zurückgehen, stieß sich Lorcan entschlossen von der Wand ab und spähte zu der kurzen Treppe am Ende des Gangs. »Die Stufen hinauf, dann durch den Rosengarten, noch einmal Stufen, und wir sind in der Bibliothek«, zählte er auf, als träfe er eine Abmachung mit sich selbst. »Also dann.« Er stieß die Luft aus, warf sich nach vorn und schlang den Arm um Wynters Schulter.
»Oben auf dem Treppenabsatz bist du für jedermann zu sehen«, ächzte sie. »Dann musst du allein laufen.«
»Bring mich einfach nur da rauf, Mädchen!« Sein wütendes Knurren ließ sie verstummen. Vorsichtig, Schritt für
Schritt, erklommen sie die Stufen. Oben angekommen, verschnaufte Lorcan erneut. Dann drückte er den Rücken durch, holte tief Luft und trat in die Sonne hinaus.
Der Rosengarten war leer, als sie die Tür hinter sich schlossen; trotzdem hielt Lorcan seine vorgeschützt kraftvolle Haltung aufrecht. Er lief langsam, kerzengerade und mit gestrafften Schultern. Das einzige Zugeständnis an seine elende körperliche Verfassung war der schmerzhaft feste Griff um die Schulter seiner Tochter.
Sie sah zu ihm auf. Wem wollen wir etwas vormachen? , dachte sie. Seht ihn euch doch an!
Die Granitstufen im anderen Flügel gaben ihm beinahe den Rest. Zwar waren es nur sechs, doch Lorcan blieb davor stehen und betrachtete sie zitternd. Dann grub er die Fingernägel in Wynters Schulter, beugte sich vor und nahm jede in Angriff wie einen Berggipfel.
Als er es endlich geschafft hatte, sackte er in sich zusammen. Sofort legte sie ihm den Arm um die Hüfte, doch er zischte »Lass das!« und richtete sich wieder auf.
In diesem Moment hörten sie den Tumult.
»Verdammt«, stellte Lorcan tonlos fest und ging weiter.
In dem kühlen, gefliesten Gang waren die Geräusche sehr deutlich zu vernehmen. Die Bibliothekstür am Ende stand offen, und der Lärm kam von dort: kleine Kinder heulten. Ein alter Mann rief etwas, andere brüllten. Darüber lag das Kreischen dreier junger Männer, erfüllt von Furcht und Zorn.
»Oh, du guter Gott«, stöhnte Lorcan und beeilte sich, so gut er konnte.
Wir sind zu spät, dachte sie bedauernd.
Doch drei Dinge gaben ihr Hoffnung, als sie um die Ecke bogen und die Bibliothek betraten: Da war kein Blut. Es waren nur drei Soldaten. Und diese drei waren zwei ganz normale
Wachposten aus dem Palast und einer vom Burgtor. Keine Spur von Jonathons Leibwache. Wäre einer dieser hünenhaften, unerbittlichen Männer anwesend gewesen, hätte es für die Lehrlinge gewiss das Ende bedeutet. So allerdings war noch nicht alles verloren – wenn sie nur rasch handelten.
Die Soldaten waren in ein Handgemenge mit Pascals Trupp verwickelt und versuchten, Jerome und Gary aus dem Schutz der Gruppe zu zerren. Jerome wurde von den beiden Männern zu beiden Seiten festgehalten; er wehrte sich heftig, trat und spuckte. Der dritte Soldat mühte sich ab, Gary aus dem Klammergriff der anderen Jungen zu lösen. Alle schrien und brüllten, und die kleineren Jungen weinten kläglich. Pascal kam mit großen Schritten aus dem hinteren Teil der Bibliothek heran, einen schweren Holzhammer in den Händen, bereit, ihn dem Mann auf den Kopf zu dreschen, der
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