Moorehawke 01 - Schattenpfade
ihnen keine Anweisungen gegeben, hieße das, er war faul und unfähig, und seine frühe Abwesenheit vom Arbeitsplatz wäre ein schweres Pflichtversäumnis. Wynter wusste, dass Lehrlinge ungebärdig und aufsässig gegenüber Gleichaltrigen waren, ihrem Meister aber grenzenlos treu ergeben. Wenn sie mit diesen Possen nicht aufhörten, würde das ein schlechtes Licht auf den Mann werfen, dem sie Kost und Logis verdankten und von dem ihre Zukunft abhing. Zudem würde es ihn vor dem Lehrling eines anderen Meisters beschämen.
Der älteste Junge kaute einen Moment lang auf der Lippe herum, zwischen seinen Augen hatte sich eine schmale Falte gebildet. »Warum ist dein Meister dann nicht selbst hier?«, wollte er wissen.
Sofort fiel der mit den borstigen Haaren ein: »Man sagt, dass der Protektor Moorehawke gar nicht für dieses Mortuus in vita , oder wie das heißen tut, ist! Und nämlich, dass er auf keinem Bankett und nirgendwo war, seit sie diesen heidnischen arabischen Bastard auf den Thron gesetzt haben! Deshalb ist er nicht hier, stimmt doch, oder?«
Wynter wollte schon antworten, doch der andere Lehrling im dritten Jahr ging dazwischen. Er drückte sich überraschend gepflegt aus und musterte sie von Kopf bis Fuß, als er berichtete: »Meine Mutter sagt, Fürst Razi habe den König verhext. Dass er sich den Weg zum Thron erzaubert habe …«
»Auf jeden Fall hat Razis Mutter sich den Weg in Jonathons Bett gehext, wie der König selbst noch ein ganz junger Kerl gewesen ist!«, quäkte einer der beiden Jüngsten.
»Ist sie ja schnell genug wieder losgeworden«, spöttelte der mit dem borstigen Schopf, »das schwarzäugige Weibsstück! Hat nicht lang gedauert, bis der König wieder zu Sinnen gekommen ist und sich eine brave Christenfrau genommen hat, ehe wie’s zu spät war.«
»Aber nicht eher, wie die braune Hexe einen Bastard rausgepresst hat! Und jetzt muss sie ihn nochmal verhext haben, weil sonst hätte der König doch nicht seinen Goldjungen für diesen schwarzen Teufel fortgejagt.«
»Verdammter brauner Heide!«
In Wynters Kopf drehte sich alles. Die Stimmen der Lehrlinge verschmolzen zu einem einzigen hasserfüllten Schwall, und sie spürte, wie ihr die Situation entglitt. Das war ja wie bei den Nordländern! Brave Christenfrau? Heidnischer arabischer Bastard? Wann waren Religion und Abstammung in diesem Königreich je von Belang gewesen? Wann hatte man angefangen, über Magie und Hexerei zu sprechen, als könnten sie den Lauf der Dinge ändern?
Der älteste Lehrling ergriff das Wort, und Wynter zwang sich, seiner argwöhnischen, nachdenklichen Stimme zu lauschen: »Das heißt wohl, wir müssen Seine königliche Hoheit, Prinz Alberon, durch diesen arabischen Bastard ersetzen, oder? Den wahren Erben ausmerzen und den neuen Anwärter einschnitzen?«
Wynter blinzelte, das Herz raste ihr in der Brust, ihre Augen fühlten sich heiß und trocken an. Mühsam bewegte sie die Zunge im Mund hin und her. Als sie endlich etwas über die Lippen bekam, war sie erschrocken, wie gleichmäßig ihre Stimme klang, wie vernünftig ihre Worte. »Wichtige
Staatsgeschäfte halten meinen Meister fern«, sagte sie. »Deshalb kann er heute nicht hier bei uns weilen.« Sie zog ein Schreiben aus der Jacke und sorgte dafür, dass die Jungen Lorcans Wappen auf dem Wachssiegel sehen konnten. »Hier ist eine Nachricht von ihm für euren Meister.« Der älteste Lehrling ließ seinen sachlichen Blick von Wynter zu dem Papier wandern. »Und was die Schnitzereien betrifft – ihr werdet sehen, dass es nicht nötig sein wird, den Prinzen durch seinen Bruder zu ersetzen. Fürst Razi ist ohnehin bereits auf allen Tafeln zu sehen. Sogar auf mehr Abbildungen als Prinz Alberon selbst, da Fürst Razi vor ihm geboren und daher bereits länger hier ist.«
Alle runzelten die Stirn und blickten sich um. Mit einem Mal begriff Wynter, dass keiner von ihnen überhaupt wusste, wie Alberon oder Razi aussahen. Für sie waren ihre beiden Freunde lediglich Namen: Der eine stand für einen braunen Bastard, der andere für einen goldenen Knaben. Das war alles – nur zwei Namen, Symbole. Und endlich begriff sie auch die wahre Tiefe dessen, was Jonathon hier erreichen würde.
Indem er Alberon aus der Geschichte tilgte, indem er jeden Hinweis auf ihn, jedes Bild, jede Schnitzerei zerstörte, konnte Jonathon mit Alberons Andenken verfahren, wie es ihm beliebte. Alberon konnte in alles verwandelt werden – in einen stammelnden Schwachkopf, einen
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