Moorehawke 01 - Schattenpfade
Gang hinunter. »Eure Hoheit«, begann sie förmlich, aber mit weichem Gesichtsausdruck.
Razis Blick schnellte hoch, und Wynter sah ihm an, dass er sich nur mühsam beherrschen konnte.
»Wie geht es Euch?«, fragte sie leichthin, doch ihr Blick sprach Bände.
Wortlos reichte er ihr den Brief. Er war sehr kurz. Verfasst in Jonathons eleganter Handschrift, hieß es darin lediglich: Der Oberste Inquisitor bittet, den hadrischen Freien Christopher Garron für weitere Gespräche zur Verfügung zu halten. Gezeichnet war das Schreiben »Jonathon Königssohn III«.
Sorgfältig faltete Wynter den Bogen wieder zusammen und sah zu ihrem Freund auf. Aus Razis Gemächern hörte man sanftes Planschen. Der Haufen verdreckter Kleider, der vor der Tür zu ihren Füßen lag, roch trotz des reinlichen Dampfs in der Luft immer noch Übelkeit erregend.
Wynter musste heftig schlucken. Obwohl er sie anblickte, nahm Razi sie gar nicht richtig wahr; es war, als hätte er eine unsichtbare innere Landschaft vor Augen, bevölkert von Raubtieren und überschattet von Schrecken, die nur er allein sehen konnte. Unbewusst presste er die Purpurmäntel an die Brust, zerknitterte die gewissenhaft gebügelten Brokatbesätze und samtenen Kragen.
Wynter legte den Brief oben auf den Stapel. »Du zerdrückst sie.« Sanft zog sie an seiner Hand, um seinen verkrampften Griff um die teuren Stoffe zu lockern. Da endlich sah Razi sie an, und trotz der Wachen hielt sie seine Hand fest und schenkte ihm ein aufrichtiges, liebevolles Lächeln – eine Seltenheit unter den wachsamen Augen des Hofes.
Seufzend atmete Razi aus und erwiderte ihr Lächeln. Er
drückte ihre Finger, einen schmerzlichen Ausdruck auf dem Gesicht. Dann öffnete er den Mund, stockte aber und starrte ihre Hand an. Blickte über die Schulter zu den aufmerksamen Soldaten, dann musterte er ihr Gesicht. Plötzlich entriss er Wynter die Hand, da ihm klarwurde, wo sie sich befanden.
Der Brief fiel zu Boden; sie bückte sich und hob ihn auf. Als sie ihn wieder ansah, hatte sich Razis Miene vollständig verändert.
Die Augen waren zu Schlitzen verengt, seine Gesichtszüge wirkten kalt, und er hielt sich sehr gerade, plötzlich unnahbar. »Das muss ein Ende haben«, erklärte er streng.
Wynter wusste nicht recht, was er meinte. »Wir sehen uns dann heute Abend«, versicherte sie ihm.
»Nein.« Er trat zurück und legte eine Hand auf die Türklinke. »Ich werde zu tun haben.« Und damit schloss er die Tür vor ihrer Nase, ohne sie noch einmal anzusehen.
Eine ganze Weile stand sie einfach nur da, betrachtete das dunkle Holz und spürte Razis letzte Worte wie kleine Eissamen in ihrer Brust. Aus den Gemächern drang kein Laut, kein Gespräch. Wynter wusste, dass Christophers Badewanne unmittelbar rechts von der Tür stand, sie hätte murmelnde Stimmen hören müssen, doch da war gar nichts. Razi musste entweder reglos und schweigend auf der anderen Seite der Tür stehen, oder er war wortlos an seinem Freund vorbei in das andere Zimmer gegangen.
Gott verdamme dich, Razi Königssohn , dachte sie, selbst überrascht von der Bitterkeit in ihrem Herzen. Gott verdamme dich und deine verwünschten Geheimnisse und deine Zurückweisung der Menschen, die dich lieben . Aus einem kindischen Impuls heraus trat sie gegen die Tür, dann legte sie eine Hand auf das Holz. Komm zurück! Komm zurück und umarme mich!
Aber das tat er natürlich nicht. Schließlich klopfte sie noch einmal sacht gegen die Tür, wie sie gern auf Razis Schulter geklopft hätte, und schlug den Weg zur Bibliothek ein.
Mit wild pochendem Herzen und lächerlich roten, glühenden Wangen stand Wynter vor der Tür. Die Werkzeugrolle wog unerträglich schwer auf ihrer Schulter. Sie konnte das nicht! Es ging einfach nicht!
Sie dachte an den Haufen schlaksiger Lehrlinge, der unweigerlich jenseits dieser Tür warten würde, und ihr Magen schlug Purzelbäume. Ganz gewiss würde sie schon beim Eintreten stolpern, hinfallen und sich dann zur Krönung übergeben …
Wynter ohrfeigte sich selbst so fest, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb. Sie holte tief Luft und hielt sie an, dann atmete sie ganz langsam aus, öffnete die Tür und trat ein. Sie sah sich erst um, als sie die Tür vorsichtig hinter sich zugezogen hatte. Doch mit dem Klicken des Schlosses fühlte sie sich urplötzlich als Herrin der Lage: Ihre Wangen waren kühl, die Zunge gelockert und sprechbereit, ihr Bauch friedlich. Sie hob die Augen und musterte den
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