Moorehawke 01 - Schattenpfade
für richtig halten, dass der Araber den Thron besteigt?«
Wynter blickte ihm nachdenklich in die freundlichen Augen. Wem kann man trauen? , dachte sie. Wem außer sich selbst? Pascal Huette mochte ja gütig sein, aber vielleicht dennoch ein Narr. Was, wenn er zwar geschickt durch die Untiefen des höfischen Lebens zu steuern verstand, doch kein Geheimnis bewahren konnte? Es war klar, dass Lorcan diesen Mann schätzte, dennoch hatte er ihm offenbar nicht genug vertraut, um ihm von seiner Krankheit zu erzählen. Also fiel ihre Antwort ruhig und schlicht aus: »Mein Vater wird seine Pflicht gegenüber dem König erfüllen, Meister Huette.«
Pascal nickte, musterte sie eingehend und warf dann einen Blick auf den flachen Fries, über den sich Gary soeben beugte. Es war ein langes, fließendes, überschwängliches Bild von Alberon, der seine Hunde auf einen Fuchs hetzte, und die Schnitzerei war so voller Leben und Freude, wie es der Junge selbst einst gewesen war. Vorsichtig hobelte Gary Alberons Gestalt von dem Holz, seine Bewegungen waren langsam
und sorgfältig, um Lorcans wunderschöne Ausgestaltung der Hunde und des sie umrandenden Laubwerks zu erhalten. Mit trauriger Miene beobachtete Pascal Huette seinen Sohn eine Weile.
»Ja«, murmelte er, »da kann ich deinen Vater gut verstehen.«
»Fürst Razi möchte das auch nicht, Meister Huette. Er ist dem Prinzen treu ergeben.«
Pascals Gesicht zerknitterte zu einer wissenden Grimasse, und er blickte Wynter nachsichtig an, als müsste er sie in ihrer kindlichen Unschuld belehren. »Aber gewiss doch«, schnaubte er. »Man musste ihn bestimmt auf den Thron prügeln. Sicherlich hat er sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, auf diesen mächtigen Stuhl gezerrt zu werden.«
Unwissentlich hatte er den Nagel auf den Kopf getroffen, und Wynter stand das schreckliche Festmahl wieder lebhaft vor Augen – wie sich Razi den Soldaten widersetzt hatte, da ihm der Plan seines Vaters eben erst enthüllt worden war. Wie sein Gesicht ausgesehen hatte, als sie ihn auf den Thron seines Bruders zwangen.
Sie biss die Zähne zusammen und musste sich die Nägel in die Handflächen graben, um Pascal nicht die Wahrheit entgegenzubrüllen. Ihr fiel ein, wie sie hilflos hatte zusehen müssen, als Christopher blutverschmiert und schreiend ins Verlies geschleppt worden war. Seither quälte Razi unablässig die Angst, Christopher könnte zu Tode gefoltert werden.
»Ich kann Euch versichern«, flüsterte sie, »dass Fürst Razi keinen Anteil am Erbe seines Bruders begehrt. Er ist ihm treu ergeben.«
Huette legte gütig den Kopf schräg und tätschelte ihre Schulter; sie zog sie weg und verfluchte innerlich die dummen Tränen, die ihr schon wieder in die Augen stiegen. »Hat er
etwa nicht gestern den ganzen Abend auf dem Platz seines Bruders gesessen, Mädchen? Lustig und vergnügt? Und hat die Portionen seines Bruders verspeist? Als Nächstes wird er noch den Purpur tragen und dem Rat beisitzen, als hätte er jedes Recht zu herrschen.« Offenbar missdeutete Pascal ihre glänzenden Augen als Furcht, woraufhin seine Miene noch freundlicher wurde. Tröstend rieb er ihr den Arm. »Man kann ihm keinen Vorwurf daraus machen. Das liegt denen im Blut, musst du wissen. Ein Heide wie er – die sind einfach von Natur aus nicht so treu wie unsereiner, nicht wahr? Das verstehen die einfach nicht.« Traurig schüttelte er den Kopf und sah sich nach seinen Lehrlingen um. »Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es hier sein wird, wenn der Bastard erst an der Macht ist. Vielleicht machen die das im Norden ganz richtig. Vielleicht sollten wir das ganze Gesindel einfach fortjagen. Ich meine, wenn sie sich weigern, anständig die Messe zu feiern …« Tief in Gedanken versunken brach er ab, während Wynter sprachlos vor Angst und Entsetzen neben ihm stand.
Jeromes hohe Stimme an der Tür unterbrach sie. »Hier gibt’s keine verdammten Damen, du Tölpel. Scher dich fort!«
»Halt!«, rief Wynter. »Wartet!« Hastig rannte sie zur Tür, wischte sich unterwegs die Augen und biss sich fest auf die Unterlippe. Bei ihrer stürmischen Ankunft erstarrte Jerome, und der kleine Page, den er zu verscheuchen suchte, erschreckte sich fast zu Tode.
»Wen suchst du, Kind?«, fragte sie beunruhigt.
»Euch, Hohe Protektorin.«
Bei der Nennung ihres Titels fielen Jerome beinahe die Augen aus dem Kopf, und alle Lehrlinge schnellten hoch wie die Karnickel, um sie neu zu betrachten.
»Gütiger!«, murmelte Gary. »Eine
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