Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Moorehawke 01 - Schattenpfade

Moorehawke 01 - Schattenpfade

Titel: Moorehawke 01 - Schattenpfade Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kiernan Celine
Vom Netzwerk:
Dame, wer hätte das gedacht!«

    Der kleine Page streckte Wynter einen Brief entgegen, das Wappen des Königs prangte deutlich auf dem Siegel. Er war von den fünf Lehrlingen so eingeschüchtert, dass das Papier in seinen Fingern zitterte. »Seine Majestät, der gütige König Jonathon, wartet auf eine Antwort, Hohe Protektorin.«
    Ohne zu zögern, riss sie den Brief auf; immer noch schniefte sie und musste blinzeln, um die Schrift zu erkennen. Beim Lesen der knappen Botschaft sank ihr der Mut:
    Ihr werdet aufgefordert, anstelle Eures Vaters am heutigen Festbankett teilzunehmen. Haltet Euch zum zehnten Viertel bereit.
    Wynter stöhnte auf und richtete die Augen zur Decke.
    »Seine Majestät braucht eine Antwort«, quiekte der Junge.
    Sie knirschte mit den Zähnen – sie wusste wohl, was sie Seiner Majestät gern geantwortet hätte. Doch sie schluckte ihre Wut herunter und atmete tief durch. Offenbar war dem Pagen die dunkle Zorneswolke auf ihrer Miene nicht entgangen, denn er drehte die Augen zur Wand und wartete mit betont ausdruckslosem Gesicht.
    »Richte Seiner Majestät aus, dass ich anwesend sein werde«, zischte sie, worauf sich der kleine Junge verneigte und rasch davonhuschte.
    Noch einen Moment lang blieb Wynter dort stehen, den Brief in der Hand, und starrte ins Leere. Als sie ihre Umgebung endlich wieder wahrnahm, standen die anderen Lehrlinge mit hängenden Armen und ernsten, beinahe ängstlichen Mienen um sie herum.
    Sehe ich so bestürzt aus? , dachte sie.
    Obwohl er nicht ahnen konnte, was los war, schien Gary etwas Tröstliches sagen zu wollen; doch jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte, überlegte er es sich anders und schwieg.
    Wynter drehte sich um und ging zu Pascal Huette, der noch an der gleichen Stelle auf sie wartete. Langsam steckte
sie ihr Werkzeug zurück in die Rolle und schulterte sie. Dann ließ sie den Blick über all die Schnitzereien schweifen – die glücklichen Gesichter, die fröhlichen kleinen Gedichte.
    Pascal beobachtete sie mit freundlichen, klugen Augen, und Wynter zwang sich zur Höflichkeit.
    »Ich kann das heute nicht tun, Meister Huette. Glaubt Ihr, Ihr könnt bis zu meiner Rückkehr morgen allein weiterarbeiten?«
    »Aber gewiss doch, Mädchen, keine Sorge.«
    Sie sah ihn an, und er lächelte.
    »Danke«, sagte sie tonlos und ging.

Abstand
    R azi verließ gerade seine Gemächer, als Wynter um die Ecke bog. Es war bereits weit nach der Hälfte des achten Viertels, und er würde zu spät zur Ratssitzung kommen. Jonathons Wachen scharrten schon mit den Füßen wie unruhige Pferde, doch er ließ sich alle Zeit der Welt, verschloss die Tür und zog seine Handschuhe zurecht.
    Der Schneider hatte an Alberons Kleidern Unglaubliches vollbracht. Razi sah in dem aufwendigen Purpurmantel prachtvoll aus und doch gleichzeitig überhaupt nicht wie er selbst. Seine geschmeidige Anmut wirkte wie in Ketten gelegt, eingeengt unter dem schweren Brokat. Der gelenkige, weit ausschreitende Mann war nun fest eingeschnürt und sorgfältig verpackt.
    »Eure Hoheit«, grüßte sie und eilte auf ihn zu. Sie hätte die neue Lage zu gern mit ihm besprochen. Im Moment hatte er keine Zeit, das wusste sie wohl, aber sie wollte ihm ein späteres Treffen abringen, bevor ihn die höfischen Verpflichtungen gänzlich von ihr fortrissen. Doch als Razi ihr sein Gesicht zuwandte, blieb sie wie angewurzelt stehen.
    In all den Jahren, in denen sie die höfische Maske so oft an ihrem Vater beobachtet hatte, war Wynter noch nie so erschrocken über eine Verwandlung gewesen. Razis Miene zeigte nicht den kleinsten Hauch Wärme für sie. In seinen Augen
lag nichts als Ungeduld, und seine Lippen zuckten unwillig, während er an seinem Handschuh zerrte und sich zum Gehen wandte.
    »Ich habe zu tun, Hohe Protektorin, Ihr werdet warten müssen.«
    »Dann sehen wir uns beim Bankett, Eure Hoheit!«, rief sie ihm nach.
    Er hielt abrupt an, die Schultern hochgezogen, die Hände in ihrem unablässigen Nesteln an den Handschuhen erstarrt. Mit steinerner Miene drehte er sich um. »Was meint Ihr damit?« Seine Stimme war ruhig, doch es war unübersehbar, dass er tatsächlich nichts von Jonathons Forderung wusste.
    »Seine Majestät ließ mir die Ehre zuteilwerden, mir heute Abend den Platz meines Vaters am Tisch anzutragen.« Einen flüchtigen Augenblick lang sahen sie einander in die Augen; Razis Miene war undeutbar.
    »Da könnt Ihr Euch glücklich schätzen.« Er verneigte sich kühl. »Dann auf heute Abend.« Und damit

Weitere Kostenlose Bücher