Moorehawke 02 - Geisterpfade
Sól los. Er ist jetzt kein Teil mehr davon.«
Sie zog ihren Bruder auf die Füße, doch Ashkr wollte Sólmundrs Hand einfach nicht loslassen. Die Männer sahen einander nicht an, und ihre Mienen wirkten seltsam leer, doch ihre Hände blieben vereint, als wären sie zusammengeschmiedet.
»Lass los«, murmelte Embla und bog ihm die Finger auf. »Bitte, a chroí .«
Nun ging auch Christopher zu ihnen, und Wynter konnte nur benommen zusehen, wie er vor Sólmundr in die Hocke sank. »Lasst ihn jetzt los, Sól«, sagte er. »Ihr habt keine Zeit mehr.«
Da schüttelte Sólmundr Ashkrs Hand so unvermittelt ab, dass Ashkr rückwärts taumelte. Einen Moment lang stand er zutiefst bestürzt dort, dann schien er sich zu fassen, richtete sich gerade auf und wandte sich mit einem tiefen Aufseufzen dem Eingang zu. Embla stellte sich neben ihn. Draußen vor
dem Zelt hörte man nur das Knistern der Fackeln und das Klirren der Hundeketten. Schließlich nahm Embla ihres Bruders Hand.
Christopher kauerte immer noch neben Sólmundr und sah ihn eindringlich an.
»Ihr müsst Euer Versprechen nicht halten«, raunte Sólmundr ihm zu, die leere Faust an die Brust gepresst. »Ich weiß, ich verlange zu viel.«
»Aber ich werde es erfüllen, Sólmundr. Ich schwöre es.«
Sólmundrs Miene wurde weich vor Dankbarkeit. »Sie dürfen Euch nicht sehen, Coinín«, warnte er dann. »Ihr wisst, was sie sonst mit Euch machen. Úlfnaor, er wird Euch nicht davor bewahren können.«
Christopher nickte.
Kalte Angst um Christopher beschlich Wynter. »Chris …« Sie begriff nun, dass er sich den Caoirigh anschließen wollte. Er hatte vor, mit ihnen fortzugehen und sich dieser schweigend wartenden Menschenschar auszuliefern.
Draußen entstand Geraune, Embla blickte sich um. »Wir müssen gehen, Coinín.«
»Christopher!«, rief Wynter und sprang auf.
Mit einem Satz war er bei ihr und umschlang sie, und sie klammerte die Arme um ihn und zog ihn mit aller Kraft an sich. »Geh nicht!«
Nur für ihre Ohren flüsterte er: »Bleib im Zelt, Wynter. Im Zelt bist du sicher.« Dann zog er den Kopf zurück und sah ihr beschwörend in die Augen. »Hör mir zu: Gleich, was geschieht … ganz gleich … ganz gleich, was geschieht, diese Leute werden jetzt auf dich aufpassen. Das verspreche ich dir. Und ich möchte, dass du mir versprichst, ihren Schutz anzunehmen. Versprich mir, dass du auch Razi zwingen wirst, ihn anzunehmen.«
»O mein Gott, Christopher! Was werden sie mit dir machen?«
Er hatte Tränen in den Augen. »Versprich es mir, Iseult, bitte! Du musst ihren Schutz annehmen, was auch passieren mag. Selbst wenn … Iseult, versprich mir einfach, dass du nicht den Wölfen in die Hände fallen wirst!«
Wynter umklammerte Christophers Oberarme, das Silber der Bärenreife fühlte sich kalt an. »Bleib«, flehte sie. »Was können sie dir denn tun, wenn du einfach hierbleibst?«
Er schüttelte den Kopf.
»Bleib! Bitte, sie können dich doch nicht zwingen.«
Sanft entwand er sich ihrem Griff und küsste ihre Finger. »Sie zwingen mich zu überhaupt nichts, mein Herz. Es ist meine eigene Wahl. Als wir beschlossen, hierzubleiben, konnte ich nicht einfach tatenlos zusehen und … ich kann ihn nicht im Stich lassen. Wenn du mehr wüsstest, würdest du es auch nicht tun.« Er warf einen kurzen Blick auf Razi. »Du sagst ihm doch, dass es mir leidtut, ja? Sag ihm, mir ist nichts anderes eingefallen, um ihn zu beschützen.«
»Sag es ihm doch selbst!«, rief Wynter. »Wohin gehst du denn, dass du es ihm nicht selbst sagen kannst?«
»Coinín.« Beim Klang von Ashkrs Flüstern drehten sie beide die Köpfe. Ein dunkler Schatten war über den Eingang gefallen. Embla sah Razi über die Schulter an, musterte Wynter kurz, dann wandte sie sich ab. Ashkr drehte sich gar nicht um, und Sólmundr starrte nur ausdruckslos in die tanzenden Flammen einer Feuerschale, die Faust immer noch auf die Brust gepresst.
Schließlich senkte Ashkr den Kopf; er drückte Emblas Hand kurz, dann ließen sie einander los. Die blasse Dame bückte sich, hob die lederne Klappe und duckte sich hinaus.
Sobald Embla und Ashkr ins flackernde Licht getreten waren, drehte sich auch Christopher um und folgte ihnen.
Wynter versuchte nicht, ihn aufzuhalten, sie streckte weder die Hand nach ihm aus noch sagte sie ein Wort. Furcht und Verwirrung lähmten sie, und so schlüpfte Christopher an ihr vorbei aus dem Zelt, und Wynter sah ihm schweigend nach. Er nahm seinen Platz neben den Zwillingen
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