Moorseelen
hegte, denn obwohl sein Gesicht keine Regung zeigte, glaubte ich doch einen Anflug von Mitleid mit dem verzweifelten Jungen zu entdecken.
»Urs hat Mia nicht umgebracht«, sagte ich leise.
Wiesmüller zuckte die Schultern. »Wenn er gesteht und die Indizien darauf hindeuten, können wir nicht viel machen«, seufzte er.
In meinem Bauch ballte sich erneut die Wut zu einem weiß glühenden Ball zusammen. Mit zwei Schritten war ich bei Zeno und ehe er oder jemand anderer noch reagieren konnte, verpasste ich ihm eine schallende Ohrfeige. »Bist du jetzt zufrieden?«, fauchte ich und funkelte ihn an. Er musterte mich von oben bis unten, dann hob er langsam die Hand und legte sie an seine brennende Wange, dort, wo ihn mein Schlag getroffen hatte. Zu meiner grenzenlosen Überraschung grinste er. Dann beugte er sich zu mir, bis seine Lippen fast an meinem Ohr lagen.
»Wie naiv du bist, Feline«, flüsterte er. »Du kannst mich nicht vernichten. Die Oase ist unangreifbar.« Gleichmütig, als wäre die Szene eben gerade nie passiert, richtete er sich wieder auf und musterte sein Gefolge. »Alles wird gut«, versicherte er salbungsvoll. Ich musterte Lukas, Kali, Irina und die anderen. Ihre Blicke hingen an Zeno. Und ich begriff, dass er recht hatte. Die Oasenbewohner würden alles für ihn tun. Urs hatte sogar einen Mord gestanden, den er nicht begangen hatte. Niemand konnte das Gegenteil beweisen. Vor allem, da Zeno auch die Kamera in der Wandnische abgebaut und das Notebook hatte verschwinden lassen … Im selben Moment klingelte etwas bei mir und ich hatte das Bild vor Augen, wie ich auf den Befehl »E-Mail versenden« geklickt hatte. Ich sog scharf die Luft ein. Wie hatte ich das nur vergessen können? Aryanas Versuch, mich auszuschalten, meine Flucht und schließlich noch der Schrecken über den betäubten Nick samt Zenos Skrupellosigkeit waren offenbar zu viel gewesen, sodass mir ein wichtiges Detail entfallen war. Ich wirbelte herum und rannte zu Wiesmüller, der gerade mit Deva sprach. Garantiert setzte sie ihm auseinander, dass die Oase nichts von Urs’ Taten gewusst hatte. An seiner Mimik konnte ich erkennen, wie sie ihn mit ihrer dunklen Stimme und der ruhigen Professionalität erneut einzuwickeln versuchte. Aber nicht mehr lange, dachte ich grimmig und zupfte den Polizisten am Arm seiner Lederjacke. Widerwillig ging er mit mir ein paar Schritte zur Seite, bis Deva uns nicht mehr hören konnte.
»Vielleicht habe ich doch den Beweis, den sie brauchen«, triumphierte ich. »Zeno hat nämlich heimlich diese Sessions, die er mit uns abhielt, gefilmt. Und es gibt einen Film mit Urs, kurz nach Mias Tod. Zwar glaubt Urs, er hätte Mia umgebracht, aber vielleicht wird durch die Aufnahme wenigstens klar, dass Zeno davon wusste«, fuhr ich fort.
Ich sah in den Augen des Beamten Interesse aufblitzen und betete nur, die Datei möge etwas hergeben.
Wenig später betrat ich zum zweiten Mal in dieser Nacht das Polizeirevier. Zeno und Deva hatten trotz Urs’ Geständnis mitkommen müssen. Letzteren hatte man schon in den Verhörraum verfrachtet. Er weigerte sich nach wie vor, einen Anwalt hinzuzuziehen. Die restlichen Bewohner waren unter der Aufsicht von Polizeibeamten, die Wiesmüller als Verstärkung gerufen hatte, in der Oase zurückgeblieben.
Obwohl ich seit fast 48 Stunden nicht geschlafen hatte, fühlte ich keine Müdigkeit. Im Gegenteil, ich war hellwach – und ruhelos. Fast so, als hätte ich ein Aufputschmittel genommen. Mit zitternden Fingern rief ich an Wiesmüllers Computer mein Mailprogramm auf und konnte ihm und seinen Beamten tatsächlich den Anhang präsentieren, den ich vom Laptop der Oase heruntergeladen hatte. Gespannt sah ich zu, wie die Beamten das Video öffneten. Leider hatte ich mich zu früh gefreut. Minutenlang sah man nur Urs, der weinend auf dem Boden hockte, das Gesicht in den Händen verborgen.
Dann ertönte aus dem Nichts Zenos Stimme: »Wenn du einen Fehler gemacht hast, musst du ihn wieder gutmachen.«
Urs schniefte. »Aber … das kann ich nicht«, jammerte er.
Wieder war Zeno zu hören. »Natürlich kannst du. Sei für die anderen da. Hilf ihnen bei der Arbeit. Faste. Damit wirst du deine Schuld abtragen.«
Urs nickte und sah hoch. Sein Gesichtsausdruck war hoffnungsvoll. »Danke, Zeno«, sagte er und stand auf.
Shit, dachte ich, als Urs Anstalten machte, den Raum zu verlassen. Das durfte doch nicht wahr sein!
»Tja, das war wohl nix«, hörte ich Wiesmüller sagen.
Vor Wut hätte
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