MoR 01 - Die Macht und die Liebe
schöne, breite Treppe bis ganz nach oben, dafür ist genug Platz.«
»Wie lange wirst du brauchen?« fragte Marius.
»Zufällig habe ich einige Wagenladungen Dielen und kurze Balken dabei. Also - ich würde sagen, zwei Tage, wenn ich Tag und Nacht arbeite«, antwortete der Ingenieur.
»Dann mach dich gleich an die Arbeit«, sagte Marius und sah Vagiennius voller Bewunderung an. »Du mußt zu drei Vierteln das Blut einer Bergziege haben, daß du hier heraufklettern kannst.«
»Ich bin in den Bergen geboren und aufgewachsen«, gab Vagiennius stolz zurück.
»Gut, dein Schneckenrevier wird ohnehin sicher sein, bis die Treppe fertig ist«, sagte Marius. Sie kehrten zu den Pferden zurück. »Wenn deine Schnecken bedroht sind, werde ich mich persönlich darum kümmern.«
Fünf Tage später hatte Gaius Marius die Zitadelle am Mulucha eingenommen, dazu einen ungeheuren Schatz an Silbermünzen, Silberbarren und tausend Talente in Gold. Außerdem fanden sie noch zwei kleine Truhen, die eine war randvoll gefüllt mit den feinsten, roten carbunculus -Steinen, die sie je gesehen hatten, die andere mit Steinen, die ihnen völlig unbekannt waren: lange, von Natur geschliffene Kristalle, von Menschenhand sorgfältig poliert, am einen Ende schimmerten sie rosa, am anderen Ende ging die Farbe langsam zu dunklem Grün über.
»Das ist ein Vermögen« sagte Sulla. Er hielt einen der zweifarbigen Steine in der Hand, die die Einheimischen lychnites nannten.
»Ja, das ist es!« freute sich Marius.
Alle Soldaten mußten antreten, und Publius Vagiennius wurde öffentlich, vor dem ganzen Heer, mit neun phalerae aus massivem Silber ausgezeichnet. Die großen, runden Schmuckscheiben waren in Hochrelief getrieben und wurden von schlichten, silberbeschlagenen Riemen zu drei Reihen mit je drei Stück zusammengehalten. So konnten sie auf der Brust über dem Brustpanzer oder über dem Kettenhemd getragen werden. Publius Vagiennius war stolz auf die Auszeichnung, aber viel mehr bedeutete es ihm, daß Marius Wort hielt und das Schneckenrevier vor Plünderern schützte, indem er den Weg auf den Gipfel einzäunen ließ. Der Durchgang wurde mit Leder umspannt, so daß die Soldaten nicht einmal sehen konnten, was für saftige Leckereien durch das dicht mit Farnkraut bewachsene Unterholz krochen. Sobald sie den Gipfel eingenommen hatten, befahl Marius, die Treppe unverzüglich zu zerstören. Aulus Manlius hatte inzwischen an seinen Klienten, den nichtadligen Marcus Fulvius, geschrieben und die Geschäftsverbindung angebahnt für die Zeit, wenn der Krieg in Africa vorüber und Publius Vagiennius entlassen wäre.
»Denk daran, Publius Vagiennius«, sagte Marius, als er ihm die neun silbernen phalerae verlieh, »wir vier erwarten in den nächsten Jahren die entsprechende Belohnung - Schnecken gratis auf unseren Tafeln, mit einer Extraportion für Aulus Manlius.«
»Abgemacht«, sagte Publius Vagiennius. Er hatte zu seinem tiefsten Kummer feststellen müssen, daß ihm Schnecken seit seiner Übelkeit überhaupt nicht mehr schmeckten. Aber er sah die Schnecken jetzt mit dem aufmerksamen Auge des Hegers und nicht mehr mit dem Auge des Jägers.
Am Ende des Monats Sextilis machte sich das Heer auf den Rückweg aus dem Grenzland. Die Versorgung unterwegs warf keine Probleme auf, denn die Ernte war bereits eingefahren. Der Besuch am äußersten Rand von König Bocchus’ Reich erzielte die gewünschte Wirkung. Bocchus war überzeugt, daß Marius jetzt, wo er Numidien erobert hatte, nicht mehr Halt machen würde, und beschloß, sich mit seinem Schwiegersohn Jugurtha zusammenzutun. Er eilte mit seinem maurischen Heer an den Mulucha. Dort traf er auf Jugurtha, der wartete, bis Marius abgezogen war, und dann seine ausgeraubte Bergzitadelle wieder besetzte.
Die beiden Könige folgten den Spuren der Römer auf dem Weg nach Osten. Sie hatten es nicht eilig mit einem Angriff und hielten sich in gebührender Entfernung, so daß sie unbemerkt blieben. Erst als Marius keine hundert Meilen mehr vor Cirta stand, schlugen sie zu.
Die Dunkelheit brach gerade herein, die Römer waren eifrig damit beschäftigt, ihr Lager aufzuschlagen. Dennoch traf sie der Angriff nicht völlig unvorbereitet, denn Marius sorgte immer dafür, daß Wachen aufgestellt waren, während man das Lager errichtete. Die Landvermesser legten zuerst die vier Ecken fest, diese wurden ausgesteckt, und dann ließ sich das gesamte Heer mit größter Präzision auf dem vorgesehenen Platz nieder. Jede
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