MoR 01 - Die Macht und die Liebe
hohe Berge. Noch nie in der ganzen Geschichte ihres Volkes hatte jemand Berge gesehen, es gab keine Erzählungen über Berge. Die Kimbrische Chersonesos ist flach und tief.«
»Das denke ich mir, wenn das Meer sie überfluten konnte«, sagte Marius. Er hob hastig die Hand. »Nein, das war nicht sarkastisch gemeint, Lucius Cornelius! Ich drücke mich nur ungeschickt aus.« Er stand auf und schenkte Sulla nach. »Die Berge haben sicher einen mächtigen Eindruck auf sie gemacht.«
»Auf jeden Fall. Ihre Götter waren Götter des Himmels, aber als sie das in die Wolken ragende Gebirge vor sich sahen, waren sie überzeugt, daß die Berge mit Göttern bevölkert seien, und sie begannen, diese Götter anzubeten. Seitdem haben sie sich eigentlich immer in der Nähe von Bergen aufgehalten. Im vierten Jahr ihrer Wanderung überquerten sie eine Wasserscheide. Sie kamen vom Einzugsgebiet der Elbe ins Einzugsgebiet der Donau, über die wir natürlich mehr wissen. Dann wandten sie sich entlang der Donau nach Osten und zogen ins Gebiet der Goten und Sarmaten.«
»Sie wollten also zum Schwarzen Meer?«
»Es scheint so. Die Boier hinderten sie allerdings am Betreten des nördlichen Dakien, sie mußten deshalb weiter der Donau folgen, die hier einen scharfen Knick nach Süden nach Pannonien macht.«
»Die Boier sind natürlich Kelten«, sagte Marius nachdenklich. »Kelten und Germanen haben sich wahrscheinlich nicht vermischt.«
»Nein, weit davon entfernt. Aber es ist interessant, daß die Germanen nirgends länger verweilten und um Land kämpften. Beim geringsten Zeichen von Widerstand der ortsansässigen Stämme zogen sie weiter. Wie im Fall der Boier. In der Nähe der Einmündung von Theiß und Save in die Donau verstellten ihnen wieder Kelten den Weg. Diesmal waren es die Skordisker.«
»Aber die Skordisker sind ja auch unsere Feinde!« rief Marius. Er grinste. »Ist es nicht ein Trost zu wissen, daß wir und die Skordisker einen gemeinsamen Feind haben?«
Sulla hob eine rotgoldene Braue und sagte trocken: »Ein schwacher Trost, wenn man bedenkt, daß das Ganze vor fünfzehn Jahren passierte und wir nichts davon erfuhren.«
»Heute sage ich aber auch gar nichts Richtiges, was? Verzeih mir, Lucius Cornelius. Du hast bei den Germanen gelebt. Ich bin einfach so aufgeregt über deine Neuigkeiten, daß mir die rechten Worte nicht einfallen.«
»Schon in Ordnung, Gaius Marius, das kann ich verstehen.« Sulla lächelte.
»So erzähle doch weiter!«
»Das vielleicht größte Problem der Germanen war, daß sie keinen Führer hatten, der diesen Namen verdient hätte. Sie hatten nicht einmal so etwas wie einen Generalplan, wenn ich es einmal so nennen darf. Ich glaube, sie warteten einfach auf den Tag, an dem ihnen irgendein großer König erlauben wurde, in einem unbewohnten Teil seines Landes zu siedeln.«
»Und darauf sind große Könige natürlich nicht scharf.«
»Nein. Auf jeden Fall machten sie kehrt und marschierten nach Westen, allerdings nicht mehr entlang der Donau. Sie folgten zuerst der Save, dann schwenkten sie nach Norden, bis sie auf die Drau stießen, der sie flußaufwärts folgten. Damals waren sie bereits sechs Jahre zu Fuß unterwegs, ohne irgendwo länger als einige Tage angehalten zu haben.«
»Sie fahren nicht auf den Wagen?«
»Selten. Sie haben ihr Vieh vor die Wagen gespannt und führen es zu Fuß. Auf die Wagen dürfen nur Kranke und hochschwangere Frauen, sonst niemand.« Sulla seufzte. »Und was dann geschah, wissen wir alle nur zu gut. Sie kamen nach Noricum und ins Land der Taurisker.«
»Die sich an Rom um Hilfe wandten, worauf Rom Carbo gegen die Eindringlinge entsandte und Carbo seine Armee verlor.«
»Und wie immer wichen die Germanen weiteren Konfrontationen aus. Statt ins italische Gallien einzufallen, zogen sie durch das Hochgebirge, bis sie östlich der Einmündung des Inn wieder an die Donau kamen. Da die Boier ihnen den Weg nach Osten versperrten, zogen sie an der Donau nach Westen durch das Gebiet der Markomannen. Aus Gründen, die mir dunkel blieben, schloß sich ein großer Teil der Markomannen den Kimbern und Teutonen im siebten Jahr ihrer Wanderung an.«
»Und das Gewitter? Du weißt schon, das Gewitter, das den Kampf zwischen den Germanen und Carbo unterbrach und wenigstens einem Teil von Carbos Männern das Leben gerettet hat. Einige meinten damals, die Germanen hätten das Unwetter für ein Zeichen göttlichen Zorns gehalten, und das habe uns vor einer Invasion
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