MoR 01 - Die Macht und die Liebe
es Völker gibt, die sich zum Essen hinlegen. Und wie gut es tut, wieder etwas mäßiger zu essen! Die Gallier und Germanen treiben alles bis zum Exzeß - sie essen und trinken, bis sie sich übereinander erbrechen, oder sie verhungern halb, weil sie zum Plündern oder in die Schlacht gezogen sind, ohne sich etwas zu essen einzupacken. Aber wild sind sie, Marius! Und tapfer! Ich sage dir, wenn sie nur ein Zehntel unserer Organisation und Selbstdisziplin hätten, wir könnten nie hoffen, sie zu besiegen.«
»Zu unserem Glück haben sie nicht einmal ein Hundertstel von beidem, deshalb werden wir sie besiegen. Das entnehme ich jedenfalls deinen Worten. Hier, trink das. Falerner.«
Sulla trank in tiefen, aber langsamen Zügen. »Wein, Wein, Wein! Götternektar und Seelenbalsam, Trost des zerrütteten Gemüts! Wie konnte ich je ohne ihn leben?« Er lachte. »Ich bin froh, wenn ich den Rest meines Lebens kein mit Bier gefülltes Horn und keinen Humpen mit Met mehr sehe! Wein ist das Getränk der Zivilisation! Keine Rülpser, keine Blähungen, kein Bierbauch - wer ständig Bier trinkt, wird zur wandelnden Zisterne.«
»Wo ist Quintus Sertorius? Es ist ihm doch nichts zugestoßen?«
»Er ist auf dem Weg hierher; aber wir sind getrennt gereist«, sagte Sulla. »Außerdem wollte ich zuerst allein mit dir sprechen, Gaius Marius.«
»Wie du willst, Lucius Cornelius, wenn ich nur endlich alles höre.« Marius sah Sulla voller Zuneigung an.
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«
»Dann fang am Anfang an. Wo sind sie? Woher kommen sie? Seit wann sind sie auf Wanderschaft?«
Sulla nahm einen Schluck Wein, schnalzte genüßlich mit der Zunge und schloß die Augen. »Sie nennen sich selbst nicht Germanen, denn sie betrachten sich nicht als ein Volk. Es gibt Kimbern, Teutonen, Markomannen, Cherusker und Tiguriner. Die Heimat der Kimbern und Teutonen ist eine langgestreckte, große Halbinsel im Norden Germaniens. Einige griechische Geographen haben vage Angaben darüber gemacht. Sie nennen die Halbinsel die Kimbrische Chersonesos. Die nördliche Hälfte der Halbinsel scheint die Heimat der Kimbern gewesen zu sein, die an das germanische Festland anschließende Hälfte die Heimat der Teutonen. Obwohl sie selbst sich als verschiedene Völker betrachten, ist es schwierig, sie nach ihrer äußeren Erscheinung zu unterscheiden. Lediglich ihre Sprachen sind etwas verschieden, sie können sich allerdings gegenseitig verstehen.
Sie waren keine Nomaden, aber auch keine Ackerbauern in unserem Sinn. Die Winter scheinen dort mehr naß als kalt gewesen zu sein, deshalb wuchs auf dem Boden das ganze Jahr über saftiges Gras. Sie lebten von der Viehzucht und bauten ein wenig Hafer und Roggen an. Fleischesser und Milchtrinker also, dazu etwas Gemüse, ein wenig hartes Schwarzbrot und Haferbrei.
Ungefähr zu der Zeit, als Gaius Gracchus starb - jedenfalls vor rund zwanzig Jahren -, gab es dort heftige Überschwemmungen. Schmelzwasser aus den Bergen überflutete die großen Flüsse, es regnete und stürmte, und das Meer stieg. Der Atlantische Ozean bedeckte die ganze Halbinsel. Als das Meer sich wieder zurückzog, war der Boden so salzig, daß kein Gras mehr wuchs, und die Brunnen waren mit Brackwasser gefüllt. Deshalb bauten die Germanen Wagen, trieben die Rinder und Pferde, die die Flut überlebt hatten, zusammen und zogen los, um sich eine neue Heimat zu suchen.«
Marius hörte ihm fasziniert zu. Kerzengerade und wie erstarrt saß er auf seinem Stuhl, den Wein unbeachtet neben sich. »Sind alle fortgegangen?« fragte er. »Wie viele waren es?«
»Nicht alle, nein. Die Alten und Schwachen bekamen einen Schlag auf den Kopf und wurden in großen Hügelgräbern bestattet. Nur die Krieger, die jungen Frauen und die Kinder zogen los. Ich schätze, daß sich etwa sechshunderttausend Menschen auf den Marsch nach Südosten machten, das Tal der Elbe aufwärts.«
»Aber dieser Teil der Welt ist doch kaum besiedelt.« Marius runzelte die Stirn. »Warum sind sie nicht im Tal der Elbe geblieben?«
Sulla zuckte die Schultern. »Wenn sie es selbst nicht wissen, wer soll es dann wissen? Es scheint, daß sie sich in die Hände ihrer Götter gegeben und auf eine Art göttliches Zeichen gewartet haben, das ihnen sagen würde, wann sie ihre neue Heimat gefunden hätten. Offenbar sind sie auf ihrem Marsch kaum auf Widerstand gestoßen, wenigstens nicht entlang der Elbe. Schließlich erreichten sie das Quellgebiet des Flusses und sahen zum ersten Mal
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