Morbus Dei: Die Ankunft: Roman (German Edition)
war schon etwas berauscht, als sie aufhörten zu singen.
Nachdenkliche Stille legte sich über den kleinen Raum.
„Auf dass die Lieder helfen“, brach der Großvater schließlich das Schweigen.
Johann sah ihn an. „Lasst mich raten: Ihr singt die Lieder nur in den Wintern, wenn es am kältesten ist.“
Der Großvater schwieg.
„Und sie sollen gegen die Ausgestoßenen helfen.“
Der alte Mann blickte Albin an. „Dein Maul ist offenbar um nichts kleiner als das vom Franz.“
„Der Ignaz war’s. Im Holz oben. Und er hat Recht gehabt, der Johann verdient die Wahrheit“, verteidigte sich Albin.
„Was weißt du denn schon von der Wahrheit?“, sagte Martin Karrer unwillig.
Johann bohrte weiter. „Ich hab das Ammenmärchen gehört, von
denen
, die im Wald hausen. Von Gottes Strafe an
ihnen
, der weißen Haut und den spitzen Zähnen.“ Er hielt kurz inne, dann schaute er dem Großvater in die Augen. „Was ich mich frag: Wenn es
sie
tatsächlich gibt, woher sind
sie
dann gekommen?“
„
Sie
waren schon immer da“, antwortete Martin Karrer schnell. „Und mehr weiß ich auch nicht.“ Er stand auf. „Ich denk, es ist besser, ihr geht jetzt. Bevor der Jakob misstrauisch wird.“ Während er das sagte, streifte sein Blick erst Elisabeth, dann Johann.
Johann spürte, dass der alte Mann log und viel mehr wusste, als er zugab. Aber es war nicht der rechte Zeitpunkt, mehr herauszufinden, nicht vor Elisabeth.
Johann stand auf. Er schwankte leicht, der Kopf schien ihm zu platzen.
Der Sensenmann, der grimmige Schnitter, im Totentanz mit seinen Opfern. Das blasse Antlitz, das Betteln um Gnade
.
Warum hörte er diese Stimmen? Warum hatte er gerade jetzt dieses Bild vor Augen, das ihn auch in seinen Träumen verfolgte?
Das Blut, das an die Wände spritzte und sich über die Fresken ergoss, schwarz im bleichen Licht des Mondes, pulsierenden Adern gleich
…
Albin fasste ihn an der Schulter und stützte ihn.
Die Stimmen und Bilder verschwanden, Johann sah wieder klar. Er nahm Albins Hand von seiner Schulter. „Dank dir, aber es geht schon wieder.“
„Du musst es wissen“, sagte Albin grinsend und zwinkerte Franz zu, der diese Geste erwiderte.
Elisabeth küsste ihren Großvater auf die Wange. „Bis morgen in der Kirche, Großvater.“
„Bis morgen, Kind.“
Elisabeth ging hinaus, Albin folgte ihr. Der Großvater sah Johann durchdringend an. „Pass auf dich auf, Bursche.“
Johann nickte wortlos, dann verließ auch er die Stube.
XXII
Schwere Predigt braucht einen schweren Kopf
.
Was für ein dummer Spruch, dachte Johann und rieb sich die schmerzenden Schläfen. Sein Kopf dröhnte, er hatte noch den Beerengeschmack des Schnapses im Mund. Übelkeit schwappte durch seinen Körper, verklang und wurde stärker, seine Augen waren geschwollen und gerötet – er fühlte sich schrecklich.
Dass er in der Kirche war und der ausufernden Predigt von Kajetan Bichter folgen musste, verschlimmerte das ganze natürlich um ein Vielfaches. Die Kirche war voll, denn wie Franz Karrer angekündigt hatte, war bald Weihnachten, und der Pfarrer hatte für die kommende Zeit und ihre besonderen Riten viel zu sagen. Als Johann sich sicher war, dass er es keinen Augenblick länger in der Kirche aushalten würde, beendete Bichter die Predigt.
„Amen“, sagte die Gemeinde.
„Amen, Brüder und Schwestern.“ Bichter hielt kurz inne, zögerte. Sein Blick fiel auf die ersten Reihen der groben Holzbänke, auf Karrer und Riegler. Dann schien er sich ein Herz zu fassen und setzte erneut an.
„Noch ein Wort an alle Gläubigen –“
Johann stöhnte innerlich.
„Wie wir wissen, sind die Wege des Herrn unergründlich.“ Bichter holte tief Luft. „Er hat uns ein Rind genommen und Soldaten in unser Dorf geführt. Und ich verstehe, dass viele von euch besorgt sind. Aber wir werden in diesem viel zu frühen Winter deshalb weder Hunger noch Kälte leiden müssen.“ Wieder ein kurzes Innehalten. „Vielmehr hilft dieser Verlust denjenigen, die es am notwendigsten brauchen. Und der unter euch, der nicht barmherzig genug ist, auch in größter Bedrängnis zu teilen, möge sich jetzt erheben.“
Niemand sagte ein Wort, alle schauten betroffen zu Boden. Johann sah, dass Jakob Karrers Gesicht dunkelrot vor Zorn war.
„So lasset euch nicht von Hass, Angst oder Neid leiten, denn dafür ist kein Platz. Hier nicht, und im Himmelreich erst recht nicht!“
Ein kalter Luftzug fegte plötzlich durch die Reihen. Alle drehten sich
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