Morbus Dei: Die Ankunft: Roman (German Edition)
der außerhalb von Johanns Blickfeld stand. Johann hörte nur die Stimme der anderen Person, aber sie genügte, um ihm einen Schauer über den Rücken laufen zu lassen. Es war ohne Zweifel eine menschliche Stimme, und doch klang sie anders, kalt und kratzig.
„Anselm, ihr müsst diesmal länger mit dem Fleisch auskommen. Bayerische Soldaten sind ins Dorf marschiert und haben so gut wie alle Vorräte konfisziert“, sagte Bichter gerade.
„Geschehet Euren Leuten recht. Nunc werden auch sie erfahren, was Entbehrung bedeutet.“ Die Stimme wurde lauter. „Ein usus, der unser Leben täglich bestimmet!“
Johann hatte so etwas noch nie gehört: die Person sprach eine seltsame Mischung aus altertümlichem Latein und Deutsch. Offenbar hatte das frühere Leben unter den Mönchen bei den Ausgestoßenen seine Spuren hinterlassen und über die Jahre eine neue „Sprache“ hervorgebracht. Und als Johann sich in Erinnerung rief, wo er war, schien ihm diese Sprache passend, sie war wie geschaffen dafür, durch düstere Gemäuer geflüstert zu werden und sich in unterirdischen Labyrinthen zu verlieren …
Die Stimme von Kajetan Bichter riss ihn aus seinen Gedanken.
„Habt ihr den Rest der Kuh geholt?“, fragte dieser.
„Glaubet Ihr etwa, wir würden das verschwenden?“
„Trotzdem heißt der Herr Diebstahl nicht gut, Ihr wisst, dass das gegen Seine Gebote verstößt …“, belehrte Bichter sein Gegenüber.
„Nur eine ihrer Weideflächen, dann müssten wir kein Vieh stehlen. Ihr wisset das, und Er wisse es auch!“
„Ich weiß, ich weiß, Anselm …“ Der Pfarrer senkte den Kopf. „Der Herrgott prüft euch hart –“
„Das wohl.“ Ein Augenblick der Stille. „Von Matthäus fehlet seit Tagen jegliche Spur. Zwei der Alten, Marcus et Jesaja, sind letzte Woche gestorben. Sind nur noch Haut und Beine geweset. Et Maria ist letzte Nacht von uns gegangen, ihre Erkältung hatte dem kleinen Leib zu viel abverlanget.“ Die Stimme wurde bitter. „Was will der Herr mit einem erst drei Monate alten Leben? Cum vita innocenti?“
Stille herrschte im Raum.
„Habt keine Angst, Er wird sie zu sich nehmen“, entgegnete Bichter dann ruhig.
„Sie ist bereits begraben, bei den anderen. Ihr werdet doch die letzten Worte über sie sprechen?“ Die Stimme zitterte leicht.
„Natürlich, mein Sohn, natürlich.“
Betretenes Schweigen erfüllte den Raum, das von Anselm schließlich unterbrochen wurde.
„Außerdem haben wir beschlossen, dass wir uns diesmal Gehör verschaffen werden. Das fünfte Jahr wird des balden anbrechen. Und er wird wieder kommen.“
Bichters Stirn legte sich in Zornesfalten. „Aber ihr wisst doch, dass der Jesuit nur kommt, um zu beobachten. Zu beobachten, um zu berichten. Nicht sich einzumischen. Nicht zu schlichten! Nicht zu sühnen!“
„So waret es bisher“, fuhr Anselm unbeirrt fort. „Aber diesmal haben wir unam notitiam für ihn. Eine Nachricht, damit uns vielleicht die justitia widerfahret, die uns hier schon so lange verweigert ist.“
„Macht euch doch nicht lächerlich!“, fuhr Bichter ihn an, „glaubt ihr vielleicht, dass irgendjemand etwas auf euch gibt? Was könntet ihr denn schon bieten? Soll der Heilige Vater in Rom von seinem Stuhl herabsteigen und euch die Hand reichen?“
„Nur die Toten sind näher apud Christum als wir“, entgegnete Anselm kleinlaut.
Bichter beruhigte sich wieder und legte ihm die Hand tröstend auf die Schulter.
„Anselm –“
Johann beugte sich vor – und stieß dabei leicht gegen die Tür.
Sie öffnete sich einen Spalt, langsam und knarrend.
Johann erstarrte, sein Herz schlug wie wild. Die beiden mussten das Geräusch gehört haben. Johann überschlug im Geist bereits eine mögliche Flucht aus der Ruine, als der Pfarrer wieder zu sprechen begann.
„Ich werd weiterhin versuchen, auf meine Leute einzuwirken“, sagte Bichter.
Johann beugte sich wieder zur Tür. Er konnte nun mehr von dem Raum erkennen. Links von der Feuerstelle sah er die Umrisse einer Gestalt. Sie neigte sich jetzt näher zu Bichter, der unwillkürlich zurückwich.
„Pater, ich verspreche Euch, der Tag wird kommen. Pro culpa maxima – Eure Leut werden für ihre Schuld einstehen.“
Das Licht einer der Fackeln fiel auf ihn, Johann konnte den anderen jetzt erkennen. Sein Atem stockte, Eindrücke dessen, was er sah, brannten sich ihm blitzartig ein, Bilder, die er nie mehr vergessen würde:
Die totenblasse, wächserne Haut, an vielen Stellen aufgerissen.
Die Augen
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