Morbus Dei: Inferno: Roman (German Edition)
Richträder, dahinter die mächtige Stadt, die in der Sonne erstrahlte. Es war Tag, und doch hatte Elisabeth das überwältigende Gefühl, dass die Dunkelheit Johann und sie schon bald verschlucken würde. Es war der einundzwanzigste März, der Frühling hatte begonnen.
Im Zeichen des Aries.
Morbus
XXX
Das in die Stadtmauer eingelassene Kärntnertor schien Elisabeth wie ein weit aufgerissener Schlund, der eine nicht enden wollende Kolonne an Menschen verschlang, gefüttert von der steinernen Brücke, die das gut zwanzig Klafter weite Glacis überspannte. Die mittlere der drei Toröffnungen war nur für Fuhrwerke und Karren bestimmt, Johann und Elisabeth reihten sich an der linken, kleineren Toröffnung ein. Beide trugen ihre Ledertaschen auf dem Rücken, das Pferd hatten sie in Matzelsdorf, einem Vorort von Wien, an einen Hufschmied verkauft.
Während sie näher kamen, wuchs die Stadtmauer über ihnen immer mehr an, wie eine Welle, die sich auftürmt, um gleich darauf alles unter sich zu begraben. Prächtige Wappen und Fresken schmückten die Front des Tores, der Durchgang jedoch war eng und schmutzig, die Schritte und Stimmen der Reisenden vermischten sich zu einer hallenden Kakophonie. Elisabeth fühlte Beklemmung in sich aufsteigen, sie bemühte sich, Johann in der drängelnden Menschenschlange nicht zu verlieren.
Dann waren sie durch, und auf einmal sah sich Elisabeth einer breiten Straße gegenüber, die von mehrstöckigen Gebäuden gesäumt war und an deren Ende ein riesiger Dom thronte. Schon aus der Ferne erkannte Elisabeth, dass dies das prächtigste Gotteshaus war, das sie je gesehen hatte. Und es war dieses Bild, das Elisabeth zum ersten Mal seit dem schrecklichen Vorfall bei der Spinnerin wieder etwas beruhigte. Wer so etwas erbaute, verneigte sich vor Gott, also konnten die Stadt und seine Bewohner nicht ganz schlecht sein.
Elisabeth blieb stehen, dann begann sie sich um die eigene Achse zu drehen, um diesen ersten Eindruck Wiens ganz in sich aufzunehmen.
Die riesigen Gebäude.
Die unglaubliche Masse an Menschen.
Die vielen Fuhrwerke.
Das jähe Wiehern eines Gaules ließ sie zusammenzucken, Johann packte sie am Arm und riss sie zur Seite. Ein Fuhrwerk polterte nur wenige Zoll an ihnen vorbei, der Kutscher fluchte lautstark und gab seiner Mähre die Peitsche. Dann war er im Tor verschwunden.
„Ist ein bisschen mehr los als in Innsbruck und Leoben“, sagte Johann mit einem Augenzwinkern. „Pass auf die Fuhrwerke auf, die sind stärker.“
„Ja –“, entgegnete Elisabeth, fast wie in Trance, immer mehr vom Treiben um sie herum fasziniert. Sie griff Johanns Hand und ging die Straße entlang, zuerst langsam, dann immer schneller, als würde sie vom Zentrum der Stadt magisch angezogen.
Der Trubel nahm zu, unzählige Menschen bahnten sich ihren Weg, boten ihre Ware feil oder verkauften sie den Händlern. Zwischen all den Geschäftigen krakeelten Kinder, entwischtes Federvieh lief laut gackernd umher. Starker Wind wehte durch die Straßen und trieb Gerüche aller Art vor sicher her, vermischte sie mit Schweiß und Fäkalien von Mensch und Tier zu einem beißenden Gestank. Aber schon nach kurzer Zeit hatten Johann und Elisabeth sich daran gewöhnt.
Am Ende der Straße – es war die Kärntnerstraße, wie Johann von einem mürrischen Handwerker erfuhr – gabelte sich der Weg. Zur linken begann der breite Graben, der sich in Richtung Osten mit seinen unzähligen Marktständen voller Gemüse und Früchten hinzog, geradeaus rückte der Friedhof in Sichtweite, der den Dom ringgleich einfasste.
Sie näherten sich dem riesigem Bauwerk, dann blieben sie stehen. Elisabeth hielt den Atem an – schon von weit her war der Hauptturm des Domes imposant gewesen, aber jetzt, wo sie vor ihm standen, offenbarte sich erst seine wahre Größe, die nur durch die Größe Gottes selbst übertreffbar schien. Und doch wirkte der Dom nicht erdrückend, denn die vielen Figuren, Arabesken und Wasserspeier ließen die massive Form der Kathedrale filigran und zerbrechlich erscheinen, es gab kaum eine Stelle, die nicht verziert war.
„St. Stephan …“, sagte Johann und blickte auf das Kreuz am Hauptturm. „Abt Bernardin hat mir davon erzählt, aber ich habe ihm als Kind nicht geglaubt. 444 Fuß soll der Dom hoch sein.“
„Können wir –“, Elisabeth zögerte einen Moment, „hineingehen?“
Johann wusste, dass sie nur wenig Zeit verlieren durften, aber –
Sei ehrfürchtig und bete im Hause Gottes.
Einer
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