Morbus Konstantin: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Männer und Frauen dürfte es schwierig sein, ihr altes Leben aufzugeben, ohne entdeckt zu werden, meinen Sie nicht?“
Pimm winkte ab. „Oh nein, die Krankheit wurde sehr schnell aus der Oberschicht weitergegeben, und für die armen Leute in der Stadt ist es wesentlich einfacher, zu verschwinden und ein neues Leben anzufangen. Wenn die Krankheit so lange schlummern kann und durch intimen Kontakt übertragen wird, kann man sich leicht vorstellen, wie schnell sie sich verbreiten konnte. Vielleicht hat ein unwissentlich infizierter Kaufmann seine Verkäuferin in eine Ecke des Lagers gedrängt. Vielleicht ist diese Frau nach Hause zu ihrem Mann gegangen, ohne über ihre Schmach sprechen zu wollen. Vielleicht ist dieser Mann dann hinaus zu den Huren gegangen. So muss Morbus Konstantin sich ebenso schnell verbreitet haben wie die Franzosenkrankheit.“ Abrupt brach er ab. „Ich muss mich entschuldigen, Miss Skye. Es liegt an Ihrem grässlichen Schnurbart. Er lässt mich vergessen, dass ich mit einer Dame spreche. Verzeihen Sie meine Taktlosigkeit.“
„An dem, was Sie gesagt haben, finde ich nur eines taktlos, nämlich dass Sie vergessen konnten, dass ich eine Frau bin“, sagte Skyler. Ihr Gesichtsausdruck war unmöglich zu erkennen mit diesem buschigen Ding unter ihrer Nase, die ansonsten absolut hinreißend war. Wie hatte er ihre Nase jemals zu lang finden können? Obwohl die Tatsache, dass er sie selbst in ihrer Verkleidung attraktiv fand, ihn fast ebenso beunruhigte, wie es ihn verwirrte, Freddy schön zu finden. „Ich bin Journalistin, Lord Pembroke. Ich habe Männer und Frauen jeglicher Couleur interviewt. Ich kann Ihnen versichern, dass ich schon wesentlich Schlimmeres gehört habe. Aber ja, ich vermute, dass Sie recht haben. Ich glaube, die Krankheit ist wesentlich weiter verbreitet, als den Menschen bewusst ist. Sie ist noch immer unheilbar, und ihr Verlauf ist nicht einmal ansatzweise verlangsamt worden. Die mechanischen Kurtisanen bieten den Männern, die es sich leisten können, eine sichere Form der Erleichterung. Ich bin mir weiterhin sicher, dass alle Männer enorme Willenskraft aufwenden, um der Versuchung aus dem Weg zu gehen, aber die Krankheit wird sich weiter verbreiten.“
„Wie viel Prozent der Bevölkerung müssten wohl mit der Krankheit infiziert sein, um den totalen Zusammenbruch der Gesellschaft herbeizuführen, was meinen Sie?“, sinnierte Pimm. „Ehe sie unser Verständnis dessen, was Männer zu Männern und Frauen zu Frauen macht, vollständig verändern würde? Wenn man nicht wissen kann, mit welchen Geschlecht jemand zur Welt gekommen ist, wird es schließlich zunehmend absurd, darauf zu bestehen, dass Männer und Frauen grundsätzlich anders sind. Ändert sich die Persönlichkeit, wenn sich das Geschlecht ändert? Ändert sich der Geist?“
„Der Geist ist vom Körper nicht völlig losgelöst“, sagte Miss Skyler. „Wer einmal miterlebt hat, wie ein geliebter Mensch krank wurde und litt, und wie er düster, wütend und traurig wurde, der weiß dass der Körper den Geist beeinflusst.“
„Gut, dann sagen wir, dass alle Individuen verschieden sind“, sagte Pimm. „Eine Grenze zwischen Männern und Frauen zu ziehen, die sich auf irgendetwas anderes als die reproduktiven Fähigkeiten gründet, oder vielleicht noch auf die durchschnittliche Ohrbehaarung oder die Kraft im Oberkörper, erscheint mir absurd. Ein brillanter Mann, der in eine Frau verwandelt wird, ist immer noch brillant, und anders herum.“
„Ich hatte keine Ahnung, dass Sie solch radikale Ansichten vertreten, Lord Pembroke. Sind Sie denn nicht der Meinung, dass die Teilung der Welt in männliche und weibliche Bereiche ganz offenkundig richtig ist? Dass Männer in der Gesellschaft die Führung übernehmen sollen, weil sie stärker als Frauen sind? Das ist doch nur natürlich.“
„Auch Kannibalismus ist natürlich. Kindsmord. Mord. Auf Bäumen leben, nackt herumlaufen, Raupen essen. Alles ganz natürlich. Hingegen ist es eindeutig unnatürlich, feine Mahlzeiten zu kochen, Kricket zu spielen, Brandy zu trinken und in einem Haus mit Dach und Kamin zu wohnen. Warum sollte man das Natürliche vorziehen? Wir können viel Besseres erschaffen.“
Skyler beugte sich vor, nun zutiefst interessiert, und Pimm fühlte einen Schauder bei dem Gedanken, dass sie ihn zitieren könnte. Seine Familie würde der Schlag treffen, wenn sie seine wahren Ansichten erfuhr. Verdammter Brandy. Er löste ihm stets die Zunge.
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