Mord allein macht auch nicht glücklich: Ein Provinzkrimi (German Edition)
schwer werden lassen, um danach zu beschließen, wie sie den Abend gemeinsam verbringen konnten.
Beginn der Unordnung
Erst als Kai van Harm den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, merkte er, dass seine Wohnungstür nur angelehnt war. Er sah sich nach Bruno um, der hinter ihm stand.
»Haste wohl verjessen, die Tür zuzuziehen«, sagte Bruno.
Kai, den Türknauf in der Hand, überlegte. Nein, er zog nie die Tür einfach nur hinter sich zu, selbst wenn er bloß zum Briefkasten ging oder den Müll runterbrachte. Das hier war schließlich Neukölln Süd.
»Ich schließe immer ab«, flüsterte Kai und ging behutsam in die Hocke, um das Schloss nach Auffälligkeiten zu untersuchen, »und zwar doppelt.«
Auch Bruno beugte sich hinunter und befingerte den Türlack auf Schlosshöhe. Aber die Kratzer und kleinen Absplitterungen, die sie fanden, schienen allesamt schon älter zu sein.
Plötzlich hielt Bruno, der bis dahin recht laut geschnauft hatte, was am mühsamen Treppenaufstieg lag, die Luft an, sah Kai in die Augen und legte sich den rechten Zeigefinger auf die Lippen. Instinktiv hielt auch Kai die Luft an. Beide lauschten durch den Türspalt in die Wohnung hinein. Und beide konnten sie den eigenen Pulsschlag in den Ohren spüren.
Nach einer halben Minute, in der nichts passierte, in der sie nur die gedämpften Straßengeräusche vernahmen, stieß Bruno mit einem Mal die angehaltene Luft so explosionsartig aus, dass Kai vor Schreck den Türknauf losließ, die Balance verlor und vornüberfiel. Mit der Schulter stieß er gegen die Wohnungstür, rollte in die Diele hinein und blieb dort liegen. Reglos. Er hörte, wie Bruno »Pssst!« machte und sah, dass er schon wieder die Luft anhielt.
Kai versuchte sich nicht zu rühren, ohne dass es einen wirklich triftigen Grund dafür gab. Nach einer weiteren halben Minute, in der abermals nichts passierte, ließ Bruno erneut die zurückgehaltene Atemluft mit einem lauten, platzenden Geräusch nach draußen. Kai sah sich in der Diele um. Durch das Milchglas der Küchentür fiel gedämpftes Tageslicht. Alles schien normal, die Türen, die zum Bad, zu Schlaf- sowie Wohnzimmer abgingen, waren geschlossen. Jetzt trat auch Bruno einen vorsichtigen Schritt nach vorne.
Im selben Moment hatte Kai van Harm eine Eingebung: »Peggy!«, flüsterte er in Brunos Richtung, bevor er sich leise räusperte und dann mit normaler, aber immer noch gedämpfter Stimme fortfuhr, »sie hat einen Schlüssel für meine Wohnung, nur zur Sicherheit, falls mal was ist.«
»Ach so«, sagte Bruno. Seine Stimme klang jetzt wieder so dröhnend wie immer. Er kam aus der Hocke hoch, streckte seinen Rücken durch und half anschließend Kai auf die Beine. »Dann wirdse wohl irgendwat verjessen ham jestern Abend.«
»Höchstwahrscheinlich«, sagte Kai und hängte sein Tweedjackett an den Garderobenhaken.
Er öffnete die Wohnzimmertür. Ein flüchtiger Blick genügte, um festzustellen, dass nicht Peggy mit dem Zweitschlüssel hier gewesen war.
Es war nicht so sehr die Botschaft selbst, ihr Inhalt, der Kai van Harm einen Schauer auf die Haut jagte, der gar nicht wieder vergehen wollte, es war vielmehr die Art und Weise, in der die Botschaft auf seine bis dahin saubere weiße Wohnzimmerwand aufgebracht war. Und es war natürlich die Farbe. Ein Signalrot, ein helles Blutrot, in der Maisonne, die durchs Fenster schien, eine Farbe, die Gefahr suggerierte, Verletzung, offene Wunden, Tod. Die Buchstaben waren groß, und sie standen kantig nebeneinander. Mit wildem Pinsel hingeworfen, von offenbar zorniger Hand. Ihre Ränder waren verlaufen, faserten nach unten aus in Hunderte Tropfen, kleinere und größere. Dicke Farbnasen klebten auch auf dem schwarzen Ledersofa, das an der Wand stand, genau unter der Botschaft. Das Sofa, auf dem Kai gestern Nacht noch geschlafen hatte. Auf dem dunklen Leder wirkten die Farbspritzer und Schlieren noch bedrohlicher. Wie ein Tatort, von dem man das verletzte, stark blutende Opfer fortgeschafft hatte.
Kai van Harm war sofort klar, dass seine Wohnung von dieser Stunde an nie mehr dieselbe sein würde. Jemand hatte ihre Integrität verletzt, hatte ihm, van Harm, den Kokon der Geborgenheit genommen, in den er sich jederzeit zurückziehen konnte, wenn ihm die Stadt da draußen zu aggressiv wurde, zu laut, zu rücksichtslos oder einfach zu hässlich. Van Harm war klar, dass er über kurz oder lang hier rausmusste. Seine Wohnung war entweiht worden, war jetzt ein geschändeter Ort, der
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