Mord allein macht auch nicht glücklich: Ein Provinzkrimi (German Edition)
begänne.
Es gab einen kleinen Applaus, ohne dass sich die Mienen der Klatschenden aufhellten, dann holten alle ihre Handys hervor, um sie auszustellen. Hier und da räusperte man sich vorsorglich oder schniefte noch einmal geräuschvoll ins Taschentuch, und kurz darauf ging das große Deckenlicht aus, und Kai, in einem Solo-Lichtkegel am Bistrotisch sitzend, begann mit getragener Stimme aus seinem Roman vorzulesen.
Okay …
… sie machen eine Pause da drinnen.
Nichts überstürzen jetzt, die Gelegenheit wird sich von selbst ergeben.
Ruhig Blut bewahren.
Gleichmäßiger Puls.
Bloß nichts übers Knie brechen.
Atmen!
Atmen, Herrgott!
Pausenclown
»Ick muss mal an die frische Luft«, sagte Peggy, »und bei der Gelegenheit hol ick gleich mal meinen Koffer aus dem Wagen und bring ihn hinter aufs Zimmer.«
Es war kurz vor neun, und Kai van Harm hatte gerade seine erste Leseschicht beendet.
»Ja, tun Sie das, Peggy«, sagte Kai und hielt Ausschau nach einem Glas Riesling, denn sein Mund war vom Vorlesen ganz ausgetrocknet.
»Und, soll ick mich noch umziehn?« Peggy grinste.
»Jetzt sein Sie nicht albern«, sagte Kai und fischte sich ein Glas Wein vom Tablett des netten Herrn, der wieder seine Runde drehte, und dann gleich noch eines, so wie er es von Bruno gelernt hatte. Überhaupt schien das Publikum jetzt ein wenig freundlicher zu sein, was wahrscheinlich Kais gut einstudiertem Vortrag zu verdanken war und den komischen Passagen, die er dabei zum Besten gegeben hatte. Ein paarmal jedenfalls war schallend laut gelacht worden.
»Also bis gleich, Herr van Harm, wa?«
»Bis gleich«, sagte Kai und trank das erste halbe Glas in einem Zug. Auf Brunos Gesichtsverrenkungen verzichtete er allerdings dabei.
Die Pause gestaltete sich unerwartet angenehm. Der Apotheker aus Jüterbog samt Gattin gesellte sich zu Kai, und die Buchhändlerin kam noch hinzu und ein Lehrerpaar, und Kai erzählte, dass er eigentlich Journalist sei im Feuilleton einer bedeutenden deutschen Tageszeitung aus Berlin, sich für sein Buchprojekt allerdings eine Auszeit genommen habe, was theoretisch die Wahrheit hätte sein können, es in Wirklichkeit aber nicht war. Doch was sollte es? Was kümmert den Provinz-Apotheker schon Kai van Harms wirkliche Wahrheit?
Und er erzählte weiterhin von Peggy und von Bruno und dass die beiden in seinem Buch vorkämen, allerdings unter anderen Namen. Das umstehende Kleinstadtbürgertum sagte augenzwinkernd »Aha« und »Deshalb also«, und Kai van Harm schämte sich ein bisschen, weil er die beiden dem zwar relativ diskreten, aber dennoch lustvollen Spott der Mitglieder und Freunde des Kulturscheune e.V. preisgab. Aber das Eis war gebrochen, und einige der Veranstaltungsgäste scharrten sich kurz darauf auch um Bruno, der sofort begann, Anekdoten aus Altwassmuth zu erzählen, und wie das alles so gewesen war, im letzten Jahr, und auch die biologisch einwandfreie Herkunft seiner Hose vergaß er nicht zu erwähnen.
Um halb zehn saß Kai van Harm wieder an seinem Bistrotisch und bemühte sich, den zweiten Teil der Lesung einzuleiten. Schon bei den ersten Worten merkte er, dass ihm die Silben im Mund verrutschten. Der Riesling, den er in der Pause wie Wasser weggeschlürft hatte, tat jetzt seine Wirkung. Es war eine Frage von nur zehn, zwanzig Minuten, bis er anfangen würde beim Lesen ernsthaft zu lallen.
Draußen pladderte der Regen jetzt wieder stärker, fiel mit hohlem Geräusch auf die Dachziegel der Kulturscheune, was die Behaglichkeit im Inneren noch erhöhte. Die Gesichter der Zuhörer wirkten jetzt fröhlich, viele waren leicht gerötet vom guten Wein.
Kai beschloss, noch zwei kurze Kapitel vorzutragen. Für mehr reichte höchstwahrscheinlich auch die Konzentration seiner Zuhörer nicht, die jetzt im Grunde nur noch eines wollten: dass das Büfett endlich eröffnet würde.
Nach fünfzehn Minuten war Kai van Harm fertig. Alles war gut gegangen, lediglich ein paar Endungen hatte seine alkoholschwere Zunge vergeigt, und hin und wieder war ihm eine Konsonantenhäufung missglückt. Kai bedankte sich, stand auf und ließ dann das Publikum so lange applaudieren, bis ihm abermals das Serviertablett mit den gefüllten Gläsern gereicht wurde. Nicht zuzugreifen wäre unhöflich gewesen. Seine Arbeit für heute war nun ohnehin erledigt.
Eines jedoch war Kai van Harm, während er las, aufgefallen: Ganz vorn, auf jenem Stuhl, wo im ersten Teil der Lesung ein müdes Menschenkind im rosa Adidas-Strampler
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