Mord am Niddaufer - ein Kriminalroman
dabei haben Sie Leas Roller nicht gesehen?“
„Nein. Ich wusste noch nicht einmal, dass sie einen hat.“
Bohlan fuhr sich mit der Hand über den Kopf. Er hatte noch einen Trumpf in der Hinterhand. Leas Tagebucheintrag. Aber er war sich unsicher, ob er diesen jetzt schon ausspielen sollte. Der Lehrer machte einen zu sicheren Eindruck. Vermutlich würde er sich auch mit diesem Eintrag nicht aus der Reserve locken lassen. Hier mussten härtere Bandagen her.
„In diesem Fall macht es Ihnen sicher nichts aus, wenn wir die Gartenlaube erkennungsdienstlich untersuchen lassen?“
„Selbstverständlich nicht. Wenn es hilft, meine Unschuld zu beweisen.“ Fischer lächelte ironisch. „Aber wenn es Sie beruhigt, ich bin Ihnen auch nicht böse. An Ihrer Stelle würde ich genauso handeln.“
„Puh. Der ist echt ein harter Brocken“, stöhnte Will, als sie wieder im Wagen saßen.
„Ja, ich habe mir das auch einfacher vorgestellt. Entweder sagt Fischer wirklich die Wahrheit oder er ist ein absolut guter Schauspieler.“
„Für Letzteres spricht sicher, dass er die Theater-AG leitet“, sagte Will. „Willst du wirklich die Laube untersuchen lassen?“
„Uns bleibt doch gar nichts anderes übrig. Wir haben starke Indizien, dass Lea zu Fischer wollte. Das ergibt sich unzweideutig aus den Tagebuchaufzeichnungen. Und dass sie auch da war, beweist zumindest ihr Roller. Wir kommen gar nicht darum herum, Brentanos Gartenlaube unter die Lupe nehmen.“
Dienstag
Cheyenne Mayer ging in die sechste Klasse der Willy-Brandt-Schule. Sie war ein aufgewecktes Mädchen und hatte sich in den Kopf gesetzt, auf keinen Fall so enden zu wollen wie ihre Eltern. Ihre Familie, zu der noch drei Geschwister gehörten, wohnte in einer kleinen Sozialwohnung in Alt-Eschersheim. Trotz der widrigen Zustände, die zu Hause herrschten, hatte sie es ohne Mühe auf das Gymnasium geschafft. Manchmal fragte sie sich, ob man sie vielleicht bei der Geburt vertauscht hatte. Ihre Eltern arbeiteten beide nicht. Wenn sie es richtig verstanden hatte, hatten sie auch noch niemals im Leben gearbeitet. Stattdessen verbrachten sie die meiste Zeit zu Hause, tranken Bier und härtere Sachen, rauchten eine Unmenge an Zigaretten und kümmerten sich einen feuchten Dreck um ihre Kinder. Wenn ihr Vater schlechte Laune hatte, was nahezu täglich vorkam, schrie er herum, wurde aggressiv und schlug ihre Mutter. Das waren die Momente, in denen Cheyenne Mitleid mit ihr bekam. Manchmal dachte sie, dass ihre Mutter vielleicht eine Chance gehabt hätte, wenn sie nicht ihren Vater kennengelernt hätte. Vielleicht wäre sie dann nicht in diesen Harz-IV-Kreislauf hineingeraten. Vielleicht hätte sie es geschafft, eine Ausbildung zu machen und einen Job bekommen. Sicher war sich Cheyenne nicht. Obwohl sie erst zwölf Jahre alt war, wusste sie, dass nicht alle die gleichen Chancen im Leben hatten. Wenn man davon ausging, dass sie bei der Geburt nicht vertauscht worden war, dann sprach dieser Umstand dafür, dass Cleverness und Klugheit nicht unbedingt etwas mit Vererbung zu tun hatten. Auch war sich Cheyenne sicher, dass Klugheit nicht unbedingt dafür sorgte, Erfolg im Leben zu haben. In ihrer Klasse gab es einige, die sie für weniger intelligent hielt und die es dennoch auf das Gymnasium geschafft hatten, weil ihre Eltern dafür sorgten, dass sie genügend lernten, und wenn alles nichts half, dann kam ein Nachhilfelehrer ins Haus. Cheyenne wusste genau, dass sie auf eine solche Hilfe nicht rechnen konnte. Sie war auf sich alleine gestellt, musste sich alles selbst erarbeiten. Wenn sie etwas nicht verstand, dann musste sie zusehen, dass sie es irgendwie auf die Reihe bekam. Diese Gesellschaft war ungerecht, doch sie war stark und wollte es trotz all dieser Widrigkeiten schaffen. Eines hatte Cheyenne aber nicht bedacht: es gab soziale Ungerechtigkeit, die dazu führte, dass manche Kinder bessere Startchancen hatten als andere. Es gab aber auch Zufälle, die Einfluss darauf hatten, ob ein Leben glückte oder nicht. Und es gab Schicksalsschläge, die ein geglücktes Leben verhindern konnten. Als Cheyenne an diesem Morgen über die Bahnbrücke lief, ahnte sie noch nicht, dass das Schicksal beschlossen hatte, sie auf eine harte Probe zu stellen.
Heißes Wasser prasselte aus der Regendusche. Jan Steininger hatte die Augen geschlossen und genoss das Auftreffen der Wassertropfen auf seiner Haut. Aus dem Hintergrund röhrte Adele
Rolling in the deep
aus dem Radio. Steininger fühlte
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