Mord am Niddaufer - ein Kriminalroman
Seminar über Rhetorik und Körpersprache besucht und Claussen schien alles umgesetzt zu haben, was dort gepredigt worden war: Er unterstützte seinen Vortrag durch wechselnde Handbewegungen, er bezog seine Zuhörer durch direkte Ansprache in seinen Vortrag mit ein. Vermutlich hätte er belangloses Zeug über Gott und die Welt referieren können, und jeder im Raum hätte den Eindruck gehabt, einem ganz besonderen Vortrag gelauscht zu haben. Bohlan schloss die Augen, um die optischen Reize auszublenden, die Claussen versprühte, und versuchte, sich auf die Worte zu konzentrieren.
„Suchen Sie nicht nach einem offensichtlichen Psychopathen. Nehmen Sie sich die Durchschnittstypen vor. Hannibal Lecter ist eine Erfindung der Unterhaltungsindustrie. Der reale Serienmörder wirkt unscheinbar. Das ist der Grund, warum er oft nicht in das Raster der Fahnder gerät. Die Unberechenbarkeit spielt sich in seinem Inneren ab und er versucht, beides vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Serienmörder sind zwar oft die Verlierer der Gesellschaft. Personen, die mit ihrem Schicksal hadern. Aber sie sind nicht leicht zu entdecken.“
Bohlan lehnte sich nach hinten, öffnete die Augen und blickte an die Decke.
„Nehmen wir zum Beispiel Kommissar Bohlan“, sagte Claussen. „Könnte Tom Bohlan ein Serienmörder sein?“ Der Profiler machte eine Pause und fletschte die Zähne. „Nein. Kommissar Bohlan fällt aus jedem Raster. Er ist impulsiv, selbstsicher, manchmal ein wenig egozentrisch. Für einen Serienmörder ist er die absolute Fehlbesetzung.“
„Danke, Professor Claussen“, raunzte Bohlan. „Ich bin Ihnen sehr verbunden, dass Sie mich als Täter ausschließen.“
Claussen setzte ein noch breiteres Lächeln auf. „Keine Ursache. Ich weiß, dass Sie mich für einen Blender halten. Aber ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die eine oder andere Anregung aufnehmen würden. Ich will Ihnen nicht in Ihre Arbeit reinreden. Sie sind hier der Chefermittler, ich kann Ihnen lediglich kleine Puzzleteile auf dem Weg zur Lösung des Falles liefern.“
Andreas Fischer saß auf einem alten Ledersofa in seinem Arbeitszimmer und blickte geistesabwesend aus dem Fenster. Er fühlte sich leer und ausgelaugt. Sämtliche Kräfte schienen aus ihm gewichen zu sein. Hatte er sich die letzten Monate um zehn, zwanzig Jahre jünger gefühlt als er tatsächlich war, so war nun das komplette Gegenteil eingetreten. Er hätte absolut nichts dagegen, wenn sein Gehirn aussetzen würde. Eine Komplettamnesie wäre nicht das Schlechteste. Anderseits war er sich nicht sicher, ob dies die dunklen Gefühle vertreiben würde, die sich in seinem Gemüt breit gemacht hatten. Es fiel ihm schwer, diese zu beschreiben. War es eine tiefe Depression? Er hatte von Psychologie keine Ahnung. Vielleicht war es auch lediglich Trauer, die verging. Hätte er Natascha nicht in diese verdammte Geschichte mit hineingezogen, könnte sie noch am Leben sein. Er hätte früher die Reißleine ziehen müssen. Aber ihre Anziehungskraft war stärker gewesen als die Vernunft. Oder war es nur die Anziehungskraft der Jugend, die sie verströmt hatte und die ihm langsam und allmählich zu entgleiten schien. Bei Vernunft betrachtet war es eine Liebschaft, die einige Monate angedauert hatte. Was war das im Vergleich zu dem halben Menschenleben, das hinter ihm lag und in dem er weitaus mehr zustande gebracht hatte als die Liebschaft mit einer Schülerin? Wieder und wieder versuchte er, den trüben Gefühlen rationale Gedanken entgegenzusetzen, um sich selbst aufzuheitern. Es wollte noch nicht recht gelingen. Letztlich war es aber nicht nur Nataschas Tod, der ihm zu schaffen machte. Es hing so verdammt viel damit zusammen.
„War doch ein interessanter Vortrag“, sagte Steinbrecher und ließ sich in seinen Schreibtischstuhl fallen.
„Eine wirkliche Kapazität“, pflichtete Steininger bei und wirkte euphorisiert. Julia Will verkniff sich einen Kommentar.
„Seid ihr alle total unter Drogen?“ Bohlan konnte nicht länger an sich halten. Die andauernde Lobhudelei ging ihm gewaltig auf den Senkel.
„Nicht alles, was neu ist, ist Hokuspokus“, platzte es aus Will heraus.
„Ich bin nicht gegen alles Neue. Ich wehre mich nur dagegen, dass man Altbewährtes einfach über den Haufen wirft. Nur weil da einer kommt, der Kriminalistenweisheiten neu verpackt und so tut, als hätte er die Weisheit mit Löffeln gefressen. Hokuspokus scheint mir in diesem Zusammenhang auch der richtige Ausdruck
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