Mord am Oxford-Kanal
an einem Schreibtisch saß
und Eintragungen in ihren Unterlagen machte. Vielleicht betraf die Eintragung
ja ihn, dachte Morse. Wenn dem so war, so konnte es sich nur um einen kurzen
Text handeln, denn abgesehen von einer kurzen Phase des Erbrechens irgendwann
nach Mitternacht ging es ihm inzwischen wirklich sehr viel besser, und er hatte
keiner weiteren Fürsorge bedurft. Der Infusionsschlauch, der von seinem rechten
Handgelenk zu dem über seinem Bett aufgehängten Tropf führte, zog zwar
unangenehm an seiner Haut, so als ob die Nadel nicht ganz exakt säße, aber er
hatte beschlossen, die Nachtschwester wegen dieser Kleinigkeit nicht zu
behelligen. Der Tropf verdammte ihn leider zur Immobilität - jedenfalls so
lange, bis er über die gleiche Fähigkeit verfügte wie sein Bettnachbar, ein
junger Mann, der gestern den Abend über im Krankenhaus umhergewandert war, den
Tropf dabei hoch über seinen Kopf emporhaltend, als handele es sich um die
Fackel, mit der die olympische Flamme entzündet werden sollte. Seiner
eingeschränkten Bewegungsfreiheit war es auch zuzuschreiben gewesen, daß Morse,
was ihm ausgesprochen peinlich gewesen war, um eine sogenannte «Ente» hatte
bitten müssen. Immerhin, die Bettpfanne war ihm bisher erspart geblieben, und
er hoffte, daß mangels fester Nahrung in den letzten Tagen sein Darm ihm
diesbezüglich keinen Ärger machen würde.
Die Schwester draußen redete
jetzt mit ernster Miene auf einen schmächtigen jungen Medizinalassistenten ein,
dessen weißer Kittel ihm bis fast zu den Knöcheln reichte. Aus seiner rechten
Tasche ragte ein Stethoskop. Gleich darauf betraten die beiden mit ruhigen Schritten
den Krankensaal und verschwanden hinter den Vorhängen, die man gestern abend
zugezogen hatte, um dem Patienten im Bett schräg gegenüber von Morse ein
gewisses Maß an Privatheit zu geben.
Morse hatte den Mann gesehen,
als er hereingerollt worden war, einen älteren, distinguiert aussehenden Herrn
Ende Siebzig, mit einem Schnurrbart, wie er früher von Angehörigen der
indischen Armee getragen worden war, und einigen spärlichen schneeweißen
Haaren. Einen Augenblick lang hatten sich ihre Blicke gekreuzt, und in den
Augen des alten Soldaten hatte Morse so etwas wie Aufmunterung und ein Gefühl
kameradschaftlicher Nähe aufblitzen sehen. Die in seinem Körper wütende
Blutvergiftung, die seinen Wangen bereits einen verräterisch rosa Hauch
verlieh, hatte es jedoch nicht mehr zugelassen, daß der sterbende Mann seine
Gefühle in Worte kleidete.
Um zwanzig nach fünf schlug der
Medizinalassistent die Vorhänge zur Seite, um halb sechs kamen die Pfleger und
rollten den Toten hinaus. Und als genau eine halbe Stunde später, um sechs Uhr,
das Licht im Krankensaal anging, waren die Vorhänge um das Bett, in dem Oberst
Wilfried Deniston, OBE, MC, in den frühen Morgenstunden gestorben war, beiseite
gezogen, so als sei nichts geschehen, und es war nichts zu sehen als ein frisch
geplättetes Laken und zwei fachmännisch gefaltete Decken am Fußende. Hätte
Morse gewußt, daß der Verstorbene zeit seines Lebens ein Wagner-Hasser gewesen
war, so hätte er wohl bei ihm an Sympathie eingebüßt, andererseits hätte die Tatsache,
daß Deniston das gesamte poetische Werk von A. E. Housman auswendig konnte,
Morse wohl für ihn eingenommen.
Um Viertel vor sieben bemerkte
Morse in der Umgebung des Krankensaales eine rege Geschäftigkeit, ohne jedoch
ausmachen zu können, was genau vor sich ging. Er hörte Stimmen, das Klappern
von Geschirr und das Quietschen schlecht geölter Räder, bis sich schließlich
das Rätsel löste, als Violet, eine schwergewichtige, immer gutgelaunte Frau,
die aus Westindien stammte, einen Teewagen vor sich herschiebend, den
Krankensaal betrat. Die Aussicht auf eine Tasse heißen Tee war Morse mehr als
willkommen. Zum erstenmal seit vier Tagen verspürte er wieder Lust, etwas zu
sich zu nehmen, und erst vor ein paar Minuten hatte er mit Neid die Wasserkrüge
und Saftflaschen auf den Nachttischen seiner Mitpatienten registriert. Nur der
Patient gegenüber, ein gewisser Walter Greenaway, hatte keinerlei Getränk auf
seinem Nachttisch stehen. Über seinem Bett hing ein Zettel mit der Aufschrift:
NICHTS ORAL!
«Tee oder Kaffee, Mr.
Greenaway?»
«Oh, wenn es Ihnen recht ist,
dann hätte ich gern einen Gin mit Tonic.»
«Mit Eis und Zitrone?»
«Ohne Eis bitte, ich möchte den
Gin unverdünnt genießen.»
Violet grinste und schob ihre
massive Gestalt zum nächsten Bett,
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