Mord an der Mauer
Tätigkeitsbuch fest, nachdem er die blutbefleckte Uniform in seinem Revier gewechselt hat. Damit scheint der Fall für ihn erledigt. Weder seine Vorgesetzten noch die Mordkommission wollen Näheres von ihm wissen. Gleich zwei Berichte fertigt Oberst Tschitschke an. In dem einen schildert er den »Grenzzwischenfall« und die sofort eingeleiteten Maßnahmen, etwa das Zumauern des Fensters, durch das Fechter und Kulbeik in das Grenzgebiet gesprungen sind. Den zweiten Bericht ergänzt er um die Festnahme der Augenzeugen Pietsch und Zupke und erwähnt die Prämierung der Schützen Friedrich und Schreiber sowie der beiden Grenzposten Wurzel und Lindenlaub.
Obwohl Tschitschke das Vorgehen der Grenzposten lobt, nimmt er das Vorkommnis mit einer Zeile nur denkbar knapp in den offiziellen Tagesrapport auf, »um die Namen der Genossen geheim zu halten«. In der »Chronik« der Grenzbrigade wird der Mord an der Mauer als Erfolg verbucht: Durch »vorbildliches Verhalten und gute Feuerdisziplin« sei ein »Bandit« gehindert worden, die Staatsgrenze zu durchbrechen, »indem er durch Anwendung der Schusswaffe tödlich verletzt wurde«. Bedauern allerdings schwingt im Schlusssatz des Eintrages mit: »Der zweite Verbrecher entkam.«
Auf der Gegenseite liefert der Todesfall Innensenator Albertz dagegen den Beleg für den »unerträglichen Zustand« West-Berlins. Vor Journalisten kündigt Albertz eine Sondersitzung des Senats und neue Verhandlungen mit den westlichen Stadtkommandanten an. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, die Zögerlichkeit der Schutzmächte sei ein Grund für die Situation an der Mauer. So weit geht Willy Brandt nicht, der am Abend aus Bonn zurückkehrt, doch auch er zeigt sich betroffen: »Die Nachricht von dem neuen schweren Zwischenfall an der Sektorengrenze hat mich mit tiefer Erschütterung und Empörung erfüllt.« Die Abendnachrichten verstärken dieses Gefühl, denn sie zeigen die Aufnahmen von Herbert Ernst. Und als er sie sich selbst erstmals anschaut, spürt der Kameramann ihre beklemmende Wirkung; beim Drehen hatte er nicht darüber nachgedacht, sondern sich auf Bildausschnitt, Schärfe und Belichtung konzentriert. Die Bilder wühlen eine größere Gruppe West-Berliner so sehr auf, dass sie an die Mauer laufen, um dort zu protestieren.
In Ost-Berlin haben zu diesem Zeitpunkt Renate Pietsch und Wolf-Dieter Zupke die ersten Verhöre hinter sich. Pietsch wird unter anderem gefragt, wo sie die Kamera versteckt hat, mit der sie die Grenzposten habe fotografieren wollen. Zupke wird verdächtigt, die Flüchtlinge zu kennen und ihnen Tipps gegeben zu haben. Er bestreitet das und will wissen, ob seine Eltern informiert seien. »Ja, natürlich«, lautet die Antwort, tatsächlich aber hat niemand Vater und Mutter Zupke den Aufenthaltsort ihres Sohnes mitgeteilt. Am Abend schubsen und stoßen seine Bewacher ihn zur nächsten Befragung. Im Verhörraum erwartet ihn ein neuer Vernehmer, ein Zyniker, der die Verlobungskarten aus Zupkes Tasche in der Hand hält. Kalt lächelnd schaut er ihn an: »Na, das wird ja eine tolle Verlobungsfeier, wenn der Bräutigam nicht da ist.«
Gisela Geue sitzt bis zum Abend im Garten und wartet auf ihren Bruder, doch Peter kommt nicht. Ihr Ehemann Klaus und sie wundern sich, denken aber an nichts Böses. In den Nachrichten hören sie über einen Vorfall an der Grenze; dass es dabei um ihren Bruder geht und der gestorben ist, ahnt seine Schwester nicht. Sie erfährt auch nicht, dass es spät am Abend an der Tür ihrer Eltern klingelt. Mitarbeiter der Kriminalpolizei und der Stasi verlangen Zugang zur Wohnung. Die ungebetenen Gäste durchwühlen alles und deuten an, der Sohn könnte auf der Flucht ums Leben gekommen sein. Offenbar haben Arbeitskollegen von Peter Fechter und Helmut Kulbeik auf der Baustelle gemeldet, dass beide nicht an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt waren. Am Ende der Durchsuchung fertigen die Ermittler ein Durchsuchungs- und Beschlagnahmeprotokoll an. Vermerkt werden die Uhrzeit: »00:10 Uhr«, und das Ergebnis: »ohne Erfolg«.
Auch bei den Eltern von Helmut Kulbeik schauen Ermittler vorbei, durchsuchen die Wohnung und stellen unangenehme Fragen. Von einem Fluchtversuch ihres Sohnes zusammen mit einem Arbeitskollegen ist die Rede und davon, dass einer von ihnen ums Leben gekommen sei. Wer der Tote ist, lassen die Ermittler bewusst im Unklaren. Erst als sie die Wohnung verlassen, klären sie die Eltern Kulbeiks auf, dass ihr Sohn lebt.
Am 18. August ist
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