Mord au chocolat
Schreibtisch. Das brauche ich wirklich nicht. Schon gar nicht heute.
In der Ferne höre ich die Demonstranten singen: »Was wollen wir? Krankenversicherungen für alle! Wann wollen wir das? Jetzt!«
»Sagen Sie ihm, ich komme so schnell wie möglich nach Rock Ridge.«
»Lassen Sie sich nur Zeit«, entgegnet Chief O’Malley fröhlich. »Ich genieße Mr McGorens Gesellschaft. So oft kommt es nicht vor, dass nüchterne Häftlinge bei mir sitzen. Akademisch gebildete junge Männer schon gar nicht. Zum Lunch werde ich ein paar Hühnerflügel holen.« Dann hält er den Hörer von seinem Mund weg und ruft Gavin zu: »Sie sind doch kein Vegetarier?«
»Heather!«, höre ich Gavin kreischen. »Ich muss Ihnen was sagen! Sebastian war’s nicht! Er war’s nicht...«
Dann ist die Leitung tot. Offenbar hat Chief O’Malley die Grenzen seiner Geduld erreicht und aufgelegt.
Als ich aufblicke, steht Tom neben meinem Schreibtisch und mustert mich besorgt. »Über wen hast du gerade geredet? Über Gavin? Oder Sebastian Blumenthal?«
»Gavin«, sage ich zu meiner Tastatur.
»Sitzt er auch im Gefängnis? Buchstäblich?«
»Buchstäblich, Tom. Da muss ich hin...«
»Wohin?« Er blinzelt verwirrt. »Zu Owens Apartment? Da warst du gerade. Wie lange musst du dieser Lady noch die Hand halten? Ich meine, die haben sich doch scheiden lassen, oder? Vielleicht solltest du Gillian hinschicken, unsere Trauerbegleiterin. Die beiden sehen so aus, als würden sie sich großartig verstehen...«
»Nein, ich muss nach Westchester fahren«, unterbreche ich ihn, rolle meinen Sessel zurück und stehe auf. »Ich muss mit Gavin reden.«
»Jetzt?« Schockiert schnappt Tom nach Luft – und auch ein bisschen ängstlich. »Du lässt mich hier allein? Obwohl da draußen der Teufel los ist?« Nervös wirft er einen Blick zum Fenster, das jetzt fest verschlossen und mit heruntergezogenen Jalousien geschützt ist. »Durch dieses Fenster wurde Dr. Veatch erschossen.«
»Sicher wird dir nichts passieren. Du hast ja die Werkstudenten. Und die Arbeitsschichten an den Schreibtischen in der Halle habe ich schon geplant. Dr. Veatchs Termine wurden abgesagt. Um Himmels willen, Tom, du hast dich doch um die Studentenvereinigung gekümmert. Die war bestimmt problematischer als die Fischer Hall.«
»Ja«, stimmt er bedrückt zu. »Aber da wurde niemand ermordet.«
»Keine Bange, ich komme so schnell wie möglich zurück. Wahrscheinlich bleibe ich nur ein paar Stunden weg. Wenn du mich brauchst, erreichst du mich auf meinem Handy. Falls jemand fragt, wo ich bin, behauptest du – ein Notfall in meiner Familie. Hast du mich verstanden? Erzähl niemandem von Gavin, das ist wirklich wichtig.«
»Okay.« Unglücklich weicht er meinem Blick aus.
»Das meine ich ernst, Tom.«
»Okay!«
Zufrieden wende ich mich zur Tür und stoße beinahe mit meiner besten Freundin und ehemaligen Background-Tänzerin und jetzigen Ehefrau der Rocklegende Frank Robillard, Patty, zusammen, die ein halbes Dutzend Brautmodenmagazine an ihren leicht gewölbten Bauch presst. Sie hat eine Ausrede und das ist kein Mokkabecher mit Schlagsahne, sondern der vier Monate alte schwangere Bauch einer Mom, die schon ein dreijähriges Kind hat.
»Wer hat es dir erzählt?«, frage ich und starre das Titelblatt von Elegant Bride an.
Anklagend wendet sie sich zu Tom, der die Achseln zuckt. »Ach ja, ich hab vergessen, dir das zu erzählen, Heather. Als du heute mit Owens Ex unterwegs warst, rief Patty an. Oooh, hast du schon die Maiausgabe? Mein Gott, die wiegt ja so viel wie ein Truthahn vorm Erntedankfest.«
»Unglaublich, dass du es zuerst ihm und nicht mir erzählt hast!« Selbst wenn Patty nicht schwanger ist, neigt sie zu einem irritierend strahlenden Lächeln. Mit der Anmut einer Tänzerin sinkt sie in den blauen Vinylsessel neben meinem Schreibtisch und ergreift einige Zeitschriften. »In reinem Weiß würde sie am besten aussehen
– Elfenbeinweiß macht sie blass. Was meinen Sie, Tom?«
»Da bin ich anderer Meinung«, erwidert er und setzt sich an meinen Schreibtisch. »Ein naturweißes Kleid würde ihren rosigen Teint betonen.«
»Wisst ihr eigentlich, dass gegenüber von diesem Haus eine riesige Ratte steht?«, fragt Patty. »Da laufen alle möglichen Leute drum herum. Wann willst du mir von deinem Boss erzählen, der gestern in den Kopf geschossen wurde, Heather? Es ist einfach lächerlich! Wie lange willst du noch in dieser Todesfalle arbeiten? Noch einen Boss darfst du nicht
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