Mord auf dem Golfplatz
Testament ist sie die Einzige, die davon profitiert. Das hat von Anfang an meine Aufmerksamkeit auf sie gelenkt. Sie haben vielleicht bemerkt, dass ich sehr bald ihre Handgelenke untersucht habe. Ich wollte sehen, ob die Möglichkeit bestand, dass sie sich selber gefesselt und geknebelt hatte. Eh bien, ich habe sofort gesehen, dass es kein Trug war, die Fesseln haben so straff gesessen, dass sie sich tief ins Fleisch einschnitten. Damit war es unmöglich, dass sie das Verbrechen allein begangen hatte. Aber es ist weiterhin möglich, dass sie daran beteiligt ist oder dass sie es angeregt hat und mit einem Komplizen arbeitet. Ihre Geschichte kam mir sehr bekannt vor – die maskierten Männer, die sie nicht erkennen konnte, die Erwähnung des ›Geheimnisses‹ – das alles habe ich schon einmal gehört oder gelesen. Und ein weiteres kleines Detail hat mich schließlich davon überzeugt, dass sie nicht die Wahrheit sagt. Die Armbanduhr, Hastings, die Armbanduhr!«
Schon wieder diese Uhr! Poirot beobachtete mich neugierig.
»Sehen Sie, mon ami? Verstehen Sie?«
»Nein«, erwiderte ich missmutig. »Ich sehe nicht, und ich verstehe auch nicht. Sie sehen überall ein verflixtes Mysterium, und es hilft nichts, Sie um eine Erklärung zu bitten. Sie wollen immer bis zur letzten Minute einen Trumpf im Ärmel haben.«
»Echauffieren Sie sich nicht, mein Freund«, sagte Poirot lächelnd. »Ich erkläre alles, wenn Sie das wünschen. Aber kein Wort zu Giraud, c’est entendu? Er behandelt mich wie ein bedeutungsloses Fossil. Das wollen wir doch erst mal sehen! Anstandshalber habe ich ihm einen Hinweis gegeben. Wenn er den nicht nutzen will, dann ist das seine Sache.«
Ich versicherte Poirot, er könne sich ganz auf meine Diskretion verlassen.
» C’est bien! Aktivieren wir also die kleinen grauen Zellen. Sagen Sie, mein Freund, wann hat diese Tragödie sich ereignet, was meinen Sie?«
»Gegen zwei Uhr natürlich«, sagte ich überrascht. »Sie wissen doch, dass Mrs Renauld uns gesagt hat, die Uhr habe geschlagen, als die Männer gerade im Zimmer waren.«
»Genau, und deshalb akzeptieren Sie, der Untersuchungsrichter, Bex und alle anderen diesen Zeitpunkt ohne weitere Fragen. Ich, Hercule Poirot, behaupte aber, dass Madame Renauld lügt. Das Verbrechen ist mindestens zwei Stunden früher begangen worden!«
»Aber die Ärzte…«
»Sie haben nach Untersuchung des Leichnams erklärt, der Tod sei zwischen sieben und zehn Stunden zuvor eingetreten. Mon ami, aus irgendeinem Grund sollte es so aussehen, als habe das Verbrechen später stattgefunden als in Wirklichkeit. Sie haben von zerbrochenen Uhren gelesen, die den genauen Zeitpunkt eines Verbrechens festhalten? Damit der Zeitpunkt nicht nur durch Madame Renaulds Aussage bezeugt wird, hat jemand die Zeiger der Uhr auf zwei gestellt und dann die Uhr mit aller Kraft auf den Boden geworfen. Dabei hat dieser Jemand sein Ziel allerdings verfehlt, das kommt ja oft vor. Das Glas ist zerbrochen, das Uhrwerk blieb unbeschädigt. Es war ein ausgesprochen fataler Zug, denn er hat meine Aufmerksamkeit sofort auf zwei Punkte gelenkt: erstens, dass Madame Renauld lügt, zweitens, dass es einen triftigen Grund für diese Zeitverschiebung geben muss.«
»Aber wie könnte dieser Grund aussehen?«
»Ja, das ist die Frage! Da haben wir das ganze Mysterium. Bisher kann ich es nicht erklären. Ich sehe eigentlich nur eine mögliche Verbindung.«
»Und die wäre?«
»Dass der letzte Zug um siebzehn nach zwölf fährt.«
Darüber musste ich erst nachdenken.
»Und wenn das Verbrechen scheinbar zwei Stunden später stattgefunden hat, dann hat jemand, der diesen Zug genommen hat, ein unangreifbares Alibi.«
»Perfekt, Hastings. Sie haben es durchschaut!«
Ich fuhr zusammen.
»Dann müssen wir uns am Bahnhof erkundigen!«, rief ich. »Zwei Ausländer, die diesen Zug genommen haben, müssen doch aufgefallen sein. Wir müssen sofort hin.«
»Meinen Sie, Hastings?«
»Natürlich. Kommen Sie schon!«
Poirot dämpfte meine Glut, indem er meinen Arm antippte.
»Gehen Sie ruhig, wenn Sie möchten, mon ami – aber dann sollten Sie nicht nach zwei auffälligen Ausländern fragen.«
Ich starrte ihn an, und ziemlich ungeduldig sagte er:
» Là, là, dieses Geschwätz haben Sie doch nicht geglaubt, oder? Das mit den maskierten Männern und den ganzen Rest von cette histoire-là.«
Ich war dermaßen verblüfft, dass ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Gelassen sprach Poirot weiter:
»Sie
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