Mord auf der Leviathan
»Es gibt nichts Schlimmeres als Verrat.«
Fandorin wiederholte geduldig seine Frage: »Also, ist das Tuch sehr w-wertvoll, Professor?«
»Ich glaube nicht. Es ist eher eine Rarität, ein Kuriosum.«
»Und warum wurde immer wieder etwas darin eingewickelt, mal der Koran, mal der Schiwa? Hat das Stück Seide vielleicht eine sakrale Bedeutung?«
»Das habe ich nie gehört. Zufall.«
Kommissar Coche stand ächzend auf und reckte die Schultern.
»Tja, interessante Geschichte, aber für unsere Untersuchung gibt sie leider nichts her. Der Mörder wird diesen Lappen kaum als sentimentales Souvenir mit sich herumtragen.« Träumerisch fügte er hinzu: »Das wäre nicht schlecht. Einer von Ihnen, verehrte Verdächtige, holt das Seidentuch mit dem Paradiesvogel aus Zerstreutheit hervor und schneuzt hinein. Dann wüßte der alte Coche, was er zu tun hätte.«
Der Fahnder lachte, er schien seinen Scherz für geistreich zu halten. Clarissa sah den Grobian mißbilligend an. Der fing ihren Blick auf und verengte die Augen.
»Apropos, Mademoiselle Stomp, Ihr hübscher Hut ist der letzte Pariser Schrei. Wann waren Sie das letztemal in Paris?«
Clarissa straffte sich innerlich und antwortete in eisigem Ton: »Den Hut habe ich in London gekauft, Kommissar. Und in Paris war ich noch nie.«
Wo guckte denn Fandorin so gebannt hin? Clarissa folgte seinem Blick und erbleichte.
Der Diplomat hatte ihren Fächer aus Straußenfedern betrachtet, auf dessen Elfenbeingriff mit Goldbuchstaben stand: Meilleurs Souvenirs! Hotel »Ambassadeur«. Rue de Grenelle, Paris.
Welch unverzeihlicher Fehler!
GINTARO AONO
5. Tag des 4. Monats
Angesichts der Küste von Eritrea
Unten ein grüner Streifen Meer,
In der Mitte ein gelber Streifen Sand,
Darüber ein blauer Streifen Himmel.
Das sind die Farben
Der Fahne von Afrika.
Dieser triviale Fünfzeiler ist die Frucht meiner anderthalbstündigen Bemühungen um seelische Harmonie. Die verdammte Harmonie wollte und wollte nicht zurückkehren.
Ich saß allein auf Deck, blickte auf das trostlose Gestade von Afrika und empfand schärfer als je zuvor meine grenzenlose Einsamkeit. Ein Glück, daß ich seit meiner Kindheit die schöne Gewohnheit habe, Tagebuch zu führen. Als ich vor sieben Jahren zum Studium in das ferne Land Furansu reiste, träumte ich insgeheim davon, daß mein Reisetagebuch eines Tages veröffentlicht wird und mir und dem ganzen Geschlecht der Aonos Ruhm einbringt. Doch leider ist mein Geist gar zu unvollkommen, und meine Gefühle sind gar zu gewöhnlich, als daß diese kläglichen Blätter mit der großen Tagebuchliteratur früherer Zeiten wetteifern könnten.
Gleichwohl hätte ich ohne diese täglichen Aufzeichnungen wohl schon längst den Verstand verloren.
Selbst hier auf dem Schiff, das nach Ostasien fährt, sind nur
zwei Vertreter der gelben Rasse – ich und ein chinesischer Eunuch, Hofbeamter 11. Ranges, der nach Paris gereist war, um Parfümeriewaren und kosmetische Neuheiten für die Kaiserin Tz’u-Hsi einzukaufen. Aus Sparsamkeit reist er zweiter Klasse und geniert sich deswegen sehr, und unser Gespräch brach in dem Moment ab, als er mitbekam, daß ich in der ersten reise. Welche Schmach für China! Ich an Stelle des Beamten wäre sicherlich vor Demütigung gestorben. Jeder von uns beiden repräsentiert ja auf diesem europäischen Schiff eine asiatische Großmacht. Ich verstehe den Seelenzustand des Beamten, und doch tut es mir sehr leid, daß er aus Scham seine enge Kabine nicht verläßt – wir könnten miteinander reden. Das heißt natürlich, nicht reden, sondern uns mittels Pinsel und Papier verständigen. Zwar sprechen wir verschiedene Sprachen, aber die Hieroglyphen sind ja die gleichen.
Macht nichts, sage ich mir, halte durch. Es dauert ja nicht mehr lange. In knapp einem Monat sehe ich die Lichter von Nagasaki, und von dort ist es nur noch ein Katzensprung bis zu meiner Heimat Kagoshima. Und wenn auch meine Heimkehr mir Schande und Erniedrigung verheißt, und wenn ich auch zum Gespött meiner Freunde werde, Hauptsache, wieder zu Hause! Schließlich wird es niemand wagen, mich offen zu verachten, alle wissen ja, daß ich den Willen meines Vaters erfüllt habe, und über Befehle diskutiert man bekanntlich nicht. Ich tat, was ich tun mußte und wozu ich verpflichtet war. Mein Leben ist zugrunde gerichtet, aber wenn das für das Wohl Japans notwendig ist … Doch Schluß, genug davon!
Wer hätte denken können, daß die Rückkehr in die
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