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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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haben.«
    »Sie reden über diesen Mann immer nur in der V-vergangenheit«, bemerkte Fandorin. »Ist er tot? Was ist aus der Schatulle geworden?«
    »Das weiß leider niemand. Bagdassar nahm ein tragisches Ende. Während des Sepoy-Aufstands beging der Radscha die Unvorsichtigkeit, mit den Empörern Geheimverhandlungen aufzunehmen, und der Vizekönig erklärte Brahmapur zum feindlichen Territorium. Böse Zungen behaupteten, Britannien habe einfach die Schätze Bagdassars an sich bringen wollen, aber das stimmt natürlich nicht, solcher Methoden bedienen wir Engländer uns nicht.«
    »O doch.« Regnier nickte mit bösem Lächeln und wechselte einen Blick mit dem Kommissar.
    Clarissa sah Fandorin unauffällig an – war der etwa auch vom Bazillus der Anglophobie infiziert? Aber der russische Diplomat saß mit unbewegter Miene da.
    »Eine Schwadron Dragoner wurde in den Palast Bagdassars entsandt. Der Radscha versuchte, nach Afghanistan zu fliehen, aber die Kavallerie holte ihn bei einer Furt über den Ganges ein. Sich verhaften zu lassen, das war unter Bagdassars Würde, und er nahm Gift. Die Schatulle hatte er nicht bei sich, nur ein Bündel mit einer Notiz in englischer Sprache. Sie war an die britischen Behörden gerichtet. Darin beschwor der Radscha seine Unschuld und bat, das Bündel seinem einzigen Sohn zukommen zu lassen. Der Junge wurde irgendwo in Europa in einem privaten Internat erzogen. Bei den indischen Würdenträgern neuerer Denkart ist das ganz normal. Ich muß erwähnen, daß Bagdassar sich keineswegs gegen die Einflüsse der Zivilisation sperrte. Er war mehrmals nach London und Paris gereist und hatte sogar eine Französin geehelicht.«
    »Ach, wie ungewöhnlich!« rief Clarissa. »Mit einem indischen Radscha verheiratet zu sein! Was ist aus ihr geworden?«
    »Zum Teufel mit ihr, erzählen Sie lieber von dem Bündel!« sagte der Kommissar ungeduldig. »Was war darin?«
    »Rein gar nichts von Interesse.« Der Professor zuckte bedauernd die Achseln. »Ein Koran-Bändchen. Die Schatulle blieb spurlos verschwunden, obwohl sie überall gesucht wurde.«
    »War es ein gewöhnlicher Koran?« fragte Fandorin.
    »Ein ganz gewöhnlicher. In einer Bombayer Offizin gedruckt, mit frommen Randbemerkungen des Verblichenen. Der Schwadronskommandeur glaubte den Koran bestimmungsgemäß expedieren zu dürfen und behielt zur Erinnerung das Tuch, in das der Koran gewickelt war. Später wurde das Tuch von Lord Littleby erworben und in seine Sammlung indischer Seidenmalerei aufgenommen.«
    Der Kommissar präzisierte: »Das Tuch, in das der Mörder den Schiwa eingewickelt hat?«
    »Genau. Es ist in der Tat ein ungewöhnliches Tuch. Aus hauchdünner, federleichter Seide. Die Zeichnung ist recht trivial – ein lieblich singender Paradiesvogel, aber es gibt zwei einzigartige Besonderheiten, die ich noch auf keinem anderen indischen Tuch gesehen habe. Erstens hat der Vogel statt des Auges ein Löchlein, dessen Ränder in feinster Juwelierarbeit mit Brokatfaden umsäumt sind. Zweitens hat das Tuch eine interessante Form – ein unregelmäßiges Dreieck: zwei Seiten gewellt, eine vollkommen gerade.«
    »Ist das Tuch sehr w-wertvoll?« fragte Fandorin.
    »Na, das Tuch ist ganz uninteressant«, sagte Madame Kleber mit launisch vorgeschobener Unterlippe. »Erzählen Sie lieber von den Juwelen! Man hätte gründlicher suchen sollen.«
    Sweetchild lachte.
    »Oh, Madame, Sie haben keine Vorstellung, wie sorgfältig der neue Radscha gesucht hat! Er hatte uns während des Sepoy-Kriegs unschätzbare Dienste geleistet und erhielt als Belohnung den Thron von Brahmapur. Dem Ärmsten trübte sich vor Habgier das Urteilsvermögen. Ein Schlaukopf flüsterte ihm ein, Bagdassar habe die Schatulle in die Wand eines der Häuser eingemauert. Da die Schatulle tatsächlich nach Größe und Aussehen einem gewöhnlichen Lehmziegel glich, befahl der neue Radscha, alle Gebäude, die aus diesem Baumaterial errichtet waren, auseinanderzunehmen. Die Häuser wurden eines nach dem anderen abgetragen, und jeder Ziegel wurde unter der persönlichen Aufsicht des Herrschers zerschlagen. Da in Brahmapur neunzig Prozent aller Bauten aus Lehmziegeln bestanden, verwandelte sich die blühende Stadt binnen weniger Monate in einen Trümmerhaufen. Der wahnsinnige Radscha wurde von seinen eigenen Angehörigen vergiftet, da sie einen Aufstand der Bevölkerung befürchteten, ärger als die Empörung der Sepoys.«
    »Das hat er verdient, der Judas«, sagte Regnier gefühlvoll.

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