Mord auf der Leviathan
Littleby kurz vor seinem Tode gesehen wurde.«
Clarissa fuhr vor Überraschung zusammen, alle verstummten und guckten neugierig den Kommissar an; sie kannten schon die besondere Intonation, mit der er seine »Geschichten« zu beginnen pflegte.
»Ich hatte versprochen, Ihnen später von dieser Frau zu erzählen. Jetzt ist die Zeit gekommen.« Coche sah nur Clarissa an, und dieser Blick gefiel ihr immer weniger. »Es wird eine lange Geschichte, aber langweilig ist sie nicht, denn es geht um eine außergewöhnliche Frau. Und wir haben ja Zeit, oder? Wir sitzen bequem, essen Käse, trinken Orangeade. Doch wenn jemand anderes zu tun hat, soll er in Gottes Namen gehen, der alte Coche ist nicht beleidigt.«
Niemand rührte sich vom Fleck.
»Also, soll ich von Marie Sansfond erzählen?« fragte er gespielt treuherzig.
»Ja, unbedingt!« riefen alle.
Nur Clarissa schwieg, sie wußte, daß das Gespräch nicht von ungefähr begonnen worden war und ausschließlich ihr galt. Coche machte auch keinen Hehl daraus.
Er schmatzte genüßlich und holte die Pfeife hervor, ohne die Damen um Erlaubnis zu fragen.
»Ich erzähle der Reihe nach. Es lebte einmal in der belgischen Stadt Brügge ein kleines Mädchen namens Marie. Ihre Eltern waren wohlanständige Bürger der Stadt, gingen regelmäßig in die Kirche und vergötterten ihr goldlockiges Kind. Als Marie fast sechs war, bekam sie ein Brüderchen, den künftigen Erben der Bierbrauerei ›Sansfond & Sansfond‹. Die glückliche Familie war nun noch glücklicher, doch plötzlich geschah ein Unglück. Der Säugling, kaum einen Monat alt, stürzte aus dem Fenster und war tot. Erwachsene waren nicht im Hause, nur die beiden Kinder und ihre Bonne. Aber die hatte sich für eine halbe Stunde entfernt, um sich mit ihrem Liebsten, einem Feuerwehrmann, zu treffen. Während ihrer Abwesenheit drang ein Unbekannter in schwarzem Umhang und mit schwarzem Hut ins Haus ein. Die kleine Marie konnte sich unterm Bett verstecken, doch ihr Brüderchen nahm der schwarze Mann aus der Wiege und warf es aus dem Fenster. Dann verschwand er.«
»Was erzählen Sie da für Scheußlichkeiten!« rief Madame Kleber und griff nach ihrem Bauch.
»Das ist noch gar nichts.« Coche winkte mit der Pfeife ab. »Das Beste kommt erst noch. Die wie durch ein Wunder gerettete Marie erzählte ihren Eltern von dem furchtbaren ›schwarzen Onkel‹. Auf der Suche nach dem Übeltäter wurde die ganze Umgebung auf den Kopf gestellt und im Eifer des Gefechts sogar der örtliche Rabbiner verhaftet, zumal der Ärmste immer in Schwarz herumlief. Aber dem Vater ließ ein merkwürdiges Detail keine Ruhe: Warum hatte der Verbrecher einen Hocker ans Fenster geschoben?«
»O Gott!« stöhnte Clarissa und faßte sich ans Herz. »Sollte etwa …«
»Sie sind unglaublich scharfsinnig, Mademoiselle Stomp«, sagte der Kommissar auflachend. »Ja, die kleine Marie hatte ihr Brüderchen aus dem Fenster geworfen.«
»How terrible!« rief Mrs. Truffo entsetzt. »But why?« 1
»Das Mädchen konnte es nicht ertragen, daß alles sich nur noch um den Kleinen drehte und sie ganz vergessen war. Sie dachte, wenn sie das Brüderchen aus der Welt schafft, ist sie wieder der Liebling von Mama und Papa«, erklärte Coche unbewegt. »Aber es war das erste und letzte Mal, daß Marie Sansfond ein Beweisstück hinterließ und entlarvt wurde. Das liebe Kind hatte noch nicht gelernt, Spuren zu verwischen.«
»Und was geschah mit der minderjährigen Verbrecherin?« fragte Leutnant Regnier sichtlich erschüttert. »Sie konnte doch wohl nicht vor Gericht gestellt werden?«
»Nein, vor Gericht wurde sie nicht gestellt.« Der Kommissar lächelte Clarissa verschmitzt zu. »Aber die Mutter konnte den Schicksalsschlag nicht verwinden, ihr Verstand trübte sich, und sie kam ins Irrenhaus. Monsieur Sansfond mochte sein Töchterchen, das die Familie ins Unglück gestürzt hatte, nicht mehr sehen und gab sie ins Kloster der Vinzentinerinnen, der grauen Schwestern, wo sie erzogen wurde. Sie war in allem die Erste – im Lernen, in Gott gefälligen Werken. Am liebsten aber soll sie Bücher gelesen haben. Als die Novizin siebzehn war, ereignete sich im Kloster ein höchst unangenehmer Skandal.« Coche warf einen Blick in seine Mappe und nickte. »Da hab ich’s. 17. Juli 1866. Die Barmherzigen Schwestern erhielten Besuch vom Brüsseler Erzbischof, und es geschah, daß aus dem Schlafgemach des angesehenen Prälaten der uralte erzbischöfliche Ring mit dem riesigen
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