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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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können.
    Der Japaner regte sich, machte die Augen auf, und Clarissa retirierte eilig. Natürlich benahm sie sich wie eine dumme Gans, aber sie mußte doch etwas tun! Dieser Alpdruck konnte ja nicht ewig dauern. Sie mußte den Kommissar in die richtige Richtung schieben, sonst war ganz ungewiß, wie das alles enden würde. Trotz der Hitze bewegte sie fröstelnd die Schultern.
    Mr. Aonos Aussehen und Benehmen bargen eindeutig ein Geheimnis. Wie das Verbrechen in der Rue de Grenelle. Sonderbar, daß Coche noch nicht begriffen hatte, daß allen Anzeichen nach der Japaner der Hauptverdächtige war.
    Er wollte ein Offizier sein, ein Absolvent von Saint-Cyr, und hatte keine Ahnung von Pferden? Clarissa hatte einmal aus reiner Menschenliebe den schweigsamen Asiaten an der allgemeinen Unterhaltung beteiligen wollen und das Gespräch auf ein Thema gelenkt, das einen Militär interessieren mußte – Reiten, Pferderennen, die Vorzüge und Nachteile der Norfolktraber. Schöner Offizier! Auf die harmlose Frage, ob er schon einmal an einem Steeplechase teilgenommen habe, antwortete er, den Offizieren der kaiserlichen Armee sei es strengstens verboten, sich mit Politik zu befassen. Er weiß nicht, was ein Steeplechase ist! Natürlich ist unbekannt, was Japan für Offiziere hat – vielleicht reiten sie auf Bambusstecken, aber daß ein Absolvent von Saint-Cyr solche Unwissenheit bekundet? Ausgeschlossen.
    Das mußte sie Coche verklickern. Oder sollte sie abwarten, bis sie noch etwas Verdächtiges herausfand?
    Und der gestrige Vorfall? Clarissa war durch den Korridor gegangen, als aus Mr. Aonos Kabine höchst seltsame Geräusche drangen – ein trockenes Krachen, als ob jemand methodisch Möbelstücke zertrümmerte. Clarissa faßte sich ein Herz und klopfte.
    Die Tür wurde aufgerissen. In der Öffnung stand der Japaner – nackt bis auf das Lendentuch! Der dunkle Körper glänzte schweißig, die Augen waren blutunterlaufen.
    Als er Clarissa erblickte, stieß er einen Pfeiflaut aus.
    Die zurechtgelegte Frage («Monsieur Aono, könnten Sie mir vielleicht ein paar der wundervollen Gravüren zeigen, von denen ich so viel gehört habe?«) war ihr entfallen, und sie stand starr. Gleich würde er sie in die Kabine zerren und sich über sie hermachen! Dann würde er sie in Stücke zerlegen und die ins Meer werfen. Das war ganz einfach. Und dann gäbe es Miss Clarissa Stomp nicht mehr, die wohlerzogene englische Lady, die nicht besonders glücklich war, aber noch so viel vom Leben erwartete.
    Clarissa stammelte, sie habe sich in der Tür geirrt. Aono sah sie schweigend an und atmete schwer. Ein saurer Geruch ging von ihm aus.
    Sie mußte wohl doch mit dem Kommissar sprechen.
     
    Vor dem Five o’clock tea paßte sie an der Tür des Salons »Hannover« den Kommissar ab und teilte ihm ihre Überlegungen mit, doch der Kerl nahm das irgendwie sonderbar auf – er sah sie spöttisch und stechend an, als erwarte er ein unanständiges Geständnis. Zwischendurch brummte er in den Bart: »Wie sie doch alle erpicht sind, sich gegenseitig anzuschwärzen.«
    Als sie fertig war, fragte er aus dem Nichts: »Die Herren Eltern sind hoffentlich wohlauf?«
    »Wessen, von Monsieur Aono?«
    »Nein, Mademoiselle, die Ihrigen.«
    »Ich bin schon als Kind Waise geworden«, antwortete sie mit einem erschrockenen Blick auf den Kommissar.
    »Was festzustellen war.« Coche nickte zufrieden und ging, ein Clarissa unbekanntes Liedchen trällernd, als erster in den Salon. Eine Flegelei!
    Dieses Gespräch hinterließ einen unguten Bodensatz. Die Franzosen sind ja doch trotz all ihrer gepriesenen Galanterie keine Gentlemen. Natürlich sind sie imstande, einer Frau blauen Dunst vorzumachen und den Kopf zu verdrehen, ihr hundert rote Rosen aufs Hotelzimmer zu schicken (hier verzog Clarissa schmerzlich das Gesicht), aber glauben darf man ihnen nicht. Ein englischer Gentleman ist vielleicht etwas langweilig, dafür weiß er, was Pflicht und Anstand ist. Ein Franzose dagegen schleicht sich ins Vertrauen und übt dann Verrat.
    Diese Verallgemeinerungen hatten freilich nicht direkt mit Kommissar Coche zu tun. Überdies lieferte er beim Mittagessen eine Erklärung für sein Benehmen, und das auf beunruhigende Weise.
    Beim Dessert warf Coche, der bislang ein ungewohntes enervierendes Schweigen bewahrt hatte, plötzlich einen durchdringenden Blick auf Clarissa und sagte: »Übrigens, Mademoiselle Stomp, Sie fragten neulich nach Marie Sansfond, der Dame, die angeblich mit Lord

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