Mord auf der Leviathan
Erleichterung.
Jetzt waren alle beisammen außer dem Professor und dem Diplomaten.
»Monsieur Sweetchild verpackt bestimmt seine wissenschaftlichen Arbeiten, und der Russe stellt den Samowar auf, um ein letztes Mal Tee zu trinken«, sagte Renate, von dem Frohsinn des Leutnants angesteckt.
Da kam der Russe wie aufs Stichwort. Er blieb an der Tür stehen. Sein schönes Gesicht war finster wie eine Gewitterwolke.
»Was ist, Monsieur Fandorin, wollen Sie Ihren Preis holen und ins Rettungsboot mitnehmen?« fragte Renate schelmisch.
Alle bogen sich vor Lachen, aber der Russe wußte den geistreichen Scherz nicht zu schätzen.
»Kommissar Coche«, sagte er halblaut, »wenn es Ihnen keine Mühe macht, kommen Sie bitte in den Korridor. Und zwar rasch!«
Sonderbar, diese Worte sprach der Diplomat ohne das geringste Stottern. Vielleicht hatte die Nervenerschütterung ihn kuriert? Das kommt ja vor.
»Was soll denn so eilig sein?« fragte Coche mißmutig. »Später, junger Mann, später. Erst will ich den Professor zu Ende hören. Wo steckt er bloß?«
Der Russe sah den Kommissar erwartungsvoll an. Als er erkannte, daß der Alte in seiner Sturheit nicht daran dachte, in den Korridor zu kommen, zuckte er die Achseln und sagte kurz: »Der Professor kommt nicht.«
Coche runzelte die Stirn.
»Wieso denn das?«
Renate fuhr hoch.
»Warum nicht? Er hat doch an der interessantesten Stelle aufgehört! Das ist einfach unanständig!«
»Mr. Sweetchild ist soeben ermordet worden«, teilte der Diplomat bündig mit.
»Waas?« brüllte Coche. »Ermordet? Wie denn?«
»Ich vermute, mit einem chirurgischen Skalpell«, antwortete der Russe erstaunlich kaltblütig. »Ihm wurde mit großer Exaktheit die Kehle durchgeschnitten.«
KOMMISSAR COCHE
»Wann läßt man uns endlich an Land?« jammerte Madame Kleber. »Alle Welt geht in Bombay spazieren, nur wir sitzen hier fest.«
Die Gardinen an den Fenstern waren zugezogen, denn die zum Zenit aufgestiegene Sonne heizte das Deck auf und ließ die Luft schmelzen. Heiß und stickig war’s im »Hannover«, doch alle blieben geduldig sitzen und warteten auf die Lösung.
Coche zog seine Taschenuhr, ein Auszeichnungsstück mit dem Profil Napoleons III., und antwortete verschwommen: »Bald, Herrschaften. Bald lasse ich Sie gehen. Aber nicht alle.«
Er wußte, worauf er wartete: Inspektor Jackson und seine Männer machten eine Durchsuchung. Das Mordwerkzeug lag zwar gewiß auf dem Grunde des Ozeans, aber vielleicht wurden andere Beweisstücke gefunden. Hoffentlich. Nun konnte Jackson aber kommen.
Die »Leviathan« war bei Morgengrauen in Bombay eingelaufen. Seit gestern abend saßen die »Hannoveraner« in ihren Kabinen unter Hausarrest. Coche hatte mit Vertretern der örtlichen Behörden verhandelt, seine Mutmaßungen geäußert und um Unterstützung gebeten. Daraufhin hatte man ihm Jackson und eine Truppe Konstabler geschickt. Na los, Jackson, bewege dich, trieb Coche den langsamen Inspektor in Gedanken an. Nach der schlaflosen Nacht hatte er einen Kopf wie eine Kesselpauke, und die Leber muckerte. Aber seine Stimmung war nicht schlecht – der Faden entwirrte sich, und schon war das Ende zu erkennen.
Um halb neun ließ Coche, der mit der Bombayer Polizei alles geregelt und das Telegraphenamt aufgesucht hatte, alle Arrestanten im »Hannover« zusammenkommen – das war günstiger für die Durchsuchung. Nicht einmal die schwangere Renate wurde verschont, obwohl sie in der Tatzeit bei den anderen gewesen war und den Professor keineswegs hatte meucheln können. Schon seit fast vier Stunden bewachte der Kommissar seine Gefangenen. Er hatte einen strategischen Punkt besetzt, nämlich einen tiefen Sessel gegenüber dem
Verdächtigen
. Draußen, vom Salon aus nicht zu sehen, standen zwei bewaffnete Polizisten.
Ein Gespräch kam im Salon nicht in Fluß, die Arrestanten schwitzten und waren nervös. Von Zeit zu Zeit blickte Regnier herein, nickte Renate mitfühlend zu und enteilte wieder zu seinen Pflichten. Zweimal erschien der Kapitän, aber er sagte nichts, versengte nur den Kommissar mit einem wütenden Blick. Als ob der alte Coche die Suppe eingebrockt hätte!
Der verwaiste Stuhl von Professor Sweetchild erinnerte an eine Zahnlücke. Der Indologe lag jetzt an Land in einer Kühlkammer des Bombayer Leichenschauhauses. Coche stellte sich das Halbdunkel und die Eisblöcke vor und war fast neidisch auf den Toten. Der lag da, hatte alle Sorgen hinter sich, der durchweichte Kragen schnitt
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