Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
erkalteten Aalsauté zu stochern, sprangen die beiden Türflügel polternd auf, und herein stürmte der bebrillte Professor. Er hatte schon immer einen etwas närrischen Eindruck gemacht – mal war das Jackett schief zugeknöpft, mal waren die Schnürsenkel nicht zugeknotet. Jetzt aber sah er vollends derangiert aus: das Bärtchen zerzaust, der Schlips verrutscht, die Augen weit aufgerissen, unterm Rock hervor baumelte der Hosenträger. Etwas Außergewöhnliches mußte ihm widerfahren sein. Renate vergaß im Nu ihre Unannehmlichkeiten und starrte neugierig auf die gelehrte Vogelscheuche.
    Professor Sweetchild breitete wie ein Ballettänzer die Arme aus und schrie: »Heureka, meine Herrschaften! Das Geheimnis des Smaragdenen Radschas ist gelöst!«
    »O no!« stöhnte Mrs. Truffo. »Not again!« 1
    »Auf einmal paßt alles zusammen!« erklärte der Professor verworren. »Ich war doch mehr als einmal im Palast, wieso bin ich nicht früher darauf gekommen! Ich habe hin und her überlegt, und es fügte sich nicht zueinander! In Aden bekam ich ein Telegramm von einem Bekannten im französischen Innenministerium, und er bestätigte meine Vermutungen, doch ich kapierte noch immer nicht, was das Auge bedeutet und vor allem, wer das sein mag. Das heißt, wer, das ist schon klar, aber wie? Auf welche Weise? Und plötzlich ging mir ein Licht auf!« Er lief zum Fenster. Die vom Wind geblähte Gardine umhüllte ihn wie ein weißes Gewand – der Professor schob sie ungeduldig weg. »Ich band mir meinen Schlips, stand dabei am Kabinenfenster und blickte auf die Wellen. Kamm auf Kamm, bis zum Horizont. Und da kam mir die Erleuchtung! Und alles paßte zusammen – das mit dem Tuch, dem Sohn! Eine reine Büroarbeit. Die Listen der Ecole Maritime durchsehen, und schon hat man ihn!«
    »Ich verstehe kein Wort«, knurrte Schnauzer. »Phantastereien. Maritime …«
    »O doch, das ist sehr sehr interessant!« rief Renate. »Ich liebe Geheimnisse und ihre Enthüllung. Aber, lieber Professor, so geht es nicht. Setzten Sie sich an den Tisch, trinken Sie ein Glas Wein, verpusten Sie und dann erzählen Sie schön der Reihe nach – ruhig, vernünftig. Und vor allem von Anfang an, nicht vom Ende her. Sie sind doch ein wunderbarer Erzähler. Aber zuerst hole mir bitte jemand meinen Schal, sonst erkälte ich mich noch in der Zugluft.«
    »Ich werde die Fenster auf der Windseite schließen, dann gibt es keine Zugluft mehr«, bot Sweetchild an. »Sie haben recht, Madame, ich erzähle lieber der Reihe nach.«
    »Nein, nicht schließen, dann wird es stickig. Nun, meine Herren.« Renates Stimme vibrierte launisch. »Wer holt mir den Schal aus der Kabine? Hier ist der Schlüssel. Monsieur Baronet!«
    Der rothaarige Verrückte rührte sich natürlich nicht vom Fleck. Dafür sprang Regnier auf.
    »Professor, ich bitte Sie, fangen Sie nicht ohne mich an«, sagte er. »Ich bin gleich wieder da.«
    »And I’ll go get my knitting« 2 , seufzte Mrs. Truffo.
    Sie kehrte als erste zurück und klapperte geschickt mit den Stricknadeln. Ihrem Manne bedeutete sie mit der Hand, er brauche nicht zu übersetzen.
    Sweetchild bereitete seinen Triumph vor. Er war scheint’s entschlossen, Renates Rat zu befolgen und seine Entdeckungen möglichst wirksam darzulegen.
    Am Tisch herrschte völlige Stille, alle sahen den Redner an und beobachteten jede seiner Gesten.
    Sweetchild nippte vom Rotwein, ging im Salon auf und ab. Dann blieb er in malerischer Pose stehen, den Zuhörern halb zugewandt, und begann: »Ich habe Ihnen schon von dem unvergeßlichen Tag erzählt, an dem Radscha Bagdassar mich in seinen Palast zu Brahmapur einlud. Das liegt ein Vierteljahrhundert zurück, und doch erinnere ich mich an alles bis auf die letzten Details. Das erste, was mir auffiel, war der Anblick des Palastes. Da ich wußte, daß Bagdassar einer der reichsten Männer der Welt war, hatte ich orientalischen Luxus und Größe erwartet. Nichts dergleichen! Die Gebäude des Palastes waren recht bescheiden, ohne ornamentale Verzierungen. Und ich dachte mir, daß die Leidenschaft für Edelsteine, die in diesem Geschlecht vom Vater auf den Sohn vererbt wurde, alle anderen eitlen Bestrebungen verdrängt habe. Wozu Geld für Marmorwände verschwenden, wenn man dafür noch einen Saphir oder Diamanten erwerben konnte? Der Brahmapurer Palast, geduckt und unscheinbar, war eigentlich auch eine Lehmschatulle, in der die zauberische Sammlung unbeschreiblichen Glanzes aufbewahrt wurde. Marmor und Alabaster

Weitere Kostenlose Bücher