Mord auf der Leviathan
›Leviathan‹, dieses hier.« Er klopfte mit dem Finger auf den Wal an seinem Revers. »Dieses kleine Ding gehörte dem Mörder. Wie Sie wissen, haben solch ein Abzeichen nur die höheren Schiffsoffiziere und die Passagiere der Ersten Klasse. Die Offiziere schieden sofort als Verdächtige aus, denn sie hatten alle das Abzeichen, und keiner hatte sich an die Schiffahrtsgesellschaft mit der Bitte um ein neues gewandt, da das alte verlorengegangen wäre. Dafür hatten vier der Passagiere das Abzeichen nicht: Mademoiselle Stomp, Madame Kleber, Monsieur Milford-Stokes und Monsieur Aono. Auf diese Vier hatte ich ein besonderes Auge. Doktor Truffo ist als Arzt hier, Mrs. Truffo als seine Frau, und der Herr russische Diplomat trug sein Abzeichen aus Snobismus nicht, weil er nicht wie ein Hausmeister aussehen wollte.«
Der Kommissar brannte seine Pfeife an und ging im Salon auf und ab.
»Ich habe gesündigt und bereue. Ganz zu Anfang habe ich den Herrn Baronet verdächtigt, bekam aber rechtzeitig eine Auskunft über seine … Umstände und nahm eine andere Person aufs Korn. Sie, gnädige Frau.« Coche wandte sich Mademoiselle Stomp zu.
»Ich habe es bemerkt«, sagte sie würdevoll. »Ich bin nur nicht dahintergekommen, was mich so verdächtig machte.«
»Aber nanu?« sagte Coche verwundert. »Erstens ist zu sehen, daß Sie erst vor kurzem zu Reichtum gekommen sind. Das allein ist schon verdächtig. Zweitens haben Sie gelogen, Sie wären noch nie in Paris gewesen. Dabei steht auf Ihrem Fächer mit Goldbuchstaben ›Hotel Ambassadeur‹. Zwar tragen Sie den Fächer nicht mehr bei sich, aber Coche hat scharfe Augen. In teuren Hotels bekommen Gäste solche Sächelchen zur Erinnerung geschenkt. Das ›Ambassadeur‹ liegt ausgerechnet in der Rue de Grenelle, fünf Gehminuten vom Schauplatz des Verbrechens. Es ist ein großes, schickes Hotel, dort steigen viele ab, warum hält Mademoiselle Stomp es geheim? fragte ich mich. Da stimmt etwas nicht. Und dann saß mir noch diese Marie Sansfond im Kopf.« Der Kommissar lächelte Clarissa Stomp entwaffnend zu. »Nun, ich habe meine Kreise gezogen und bin schließlich auf die richtige Spur gestoßen, also tragen Sie es mir nicht nach, Mademoiselle.«
In diesem Moment sah Coche, daß der rothaarige Baronet weiß wie ein Laken war: Der Unterkiefer bebte, die grünen Augen glühten wie bei einem Basilisken.
»Was meinen Sie mit … meinen ›Umständen‹?« fragte er langsam, an den Wörtern würgend. »Worauf spielen Sie an, Herr Spürhund?«
»Aber-aber.« Coche hob beschwichtigend die Hand. »Beruhigen Sie sich erst mal. Sie dürfen sich nicht aufregen. Wen gehen Ihre Umstände was an? Ich habe ja nur sagen wollen, daß Sie mir nicht mehr verdächtig waren. Wo haben Sie übrigens Ihr Abzeichen?«
»Weggeworfen«, antwortete der Baronet heftig, und seine Augen sprühten noch immer Blitze. »Es ist abscheulich! Sieht aus wie ein goldener Blutegel! Außerdem …«
»Außerdem steht es einem Baronet Milford-Stokes nicht an, solch ein Schildchen zu tragen wie irgendwelche Neureichen, stimmt’s?« bemerkte der Kommissar scharfsinnig. »Noch ein Snob.«
Mademoiselle Stomp schien auch beleidigt.
»Kommissar, Sie haben sehr plastisch beschrieben, was meine Person verdächtig gemacht hat. Besten Dank«, sagte sie giftig und schob das spitze Kinn vor. »Immerhin haben Sie Gnade für Recht ergehen lassen.«
»In Aden habe ich etliche telegraphische Anfragen an die Pariser Präfektur geschickt. Auf die Antworten konnte ich nicht warten, denn die Ermittlungen brauchten ihre Zeit, aber in Bombay waren die Depeschen schon da. Eine davon betrifft Sie, Mademoiselle. Jetzt weiß ich, daß Sie seit Ihrem vierzehnten Lebensjahr, nach dem Tode Ihrer Eltern, bei einer entfernten Tante auf dem Lande gelebt haben. Sie war reich, aber geizig, behandelte Sie, ihre Gesellschaftsdame, stiefmütterlich und hielt Sie fast nur bei Wasser und Brot.«
Die Engländerin errötete und bereute sichtlich ihre Bemerkung. Macht nichts, mein Herzblatt, dachte Coche, gleich wirst du erst richtig rot werden.
»Vor ein paar Monaten ist die Alte gestorben, und es stellte sich heraus, daß sie ihr Vermögen Ihnen vermacht hat. Es nimmt nicht wunder, daß Sie nach so vielen Jahren des Eingesperrtseins erst mal die Welt anschauen und eine Weltreise unternehmen wollten. Bis dahin hatten Sie wohl nichts als Bücher gesehen, stimmt’s?«
»Und warum hat sie verheimlicht, daß sie in Paris war?« fragte Madame Kleber
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