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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Aono nur Krieger, alle anderen Berufe galten als unwürdig für die Mitglieder einer so vornehmen S-sippe. Der Beschuldigte ist der dritte Sohn in der Familie. Als Japan sich dafür entschied, Europa einen Schritt entgegenzukommen, schickten viele angesehene Familien ihre Söhne zum Studium ins Ausland. Das tat auch der Vater von Herrn Aono. Den ältesten Sohn ließ er in England zum Marineoffizier ausbilden. Das Fürstentum Satsuma, in dem das Geschlecht der Aonos lebt, liefert nämlich die Kader für Japans Kriegsmarine, und der Dienst auf See hat in Satsuma das größte Prestige. Den zweiten Sohn schickte Aono senior nach Deutschland, an die Militärakademie. Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870 beschlossen die Japaner, das deutsche Armeemodell zu übernehmen; ihre Militärberater sind durchweg Deutsche. Diese Angaben über die Familie Aono habe ich von dem Beschuldigten persönlich.«
    »Und was zum Teufel nützen uns die aristokratischen Details?« fragte Coche gereizt.
    »Mir ist aufgefallen, daß der Beschuldigte von seinen Vorfahren und seinen älteren B-brüdern mit Stolz redet und über sich selbst am liebsten schweigt. Ich habe längst bemerkt, daß er für einen Saint-Cyr-Absolventen in militärischen Dingen erstaunlich unwissend ist. Und warum hätte man ihn an die französische Militärakademie schicken sollen, wenn die japanische Armee, wie er selber sagt, nach deutschem Muster organisiert wird? Meine Mutmaßung läuft auf folgendes hinaus: Aono senior hatte, den Zeichen der Zeit nachgebend, beschlossen, seinen dritten Sohn einen friedlichen Beruf erlernen zu lassen, den des Arztes. Wie ich aus Büchern weiß, ist es in Japan nicht ü-üblich, einen Beschluß des Familienoberhauptes anzufechten, und der Beschuldigte bezog gehorsam die medizinische Fakultät. Aber dabei fühlte er sich höchst unglücklich und sogar entwürdigt. Er, der Sproß des kriegerischen Geschlechts der Aonos, sollte mit Binden und K-klistierspritzen umgehen! Das ist der Grund, warum er sich als Militär ausgab. Er schämte sich einfach, seinen unkriegerischen Beruf publik zu machen. Vom europäischen Standpunkt mag das absurd sein, aber versuchen Sie, es mit seinen Augen zu s-sehen. Wie hätte sich Ihr Landsmann d’Artagnan gefühlt, wenn man ihn gezwungen hätte, nicht Musketier, sondern Arzt zu werden?«
    Coche sah, wie mit dem Japaner eine Veränderung geschah. Er hatte die Augen geöffnet und sah Fandorin mit deutlicher Erregung an; auf seine Wangen traten rote Flecke. Errötete er etwa? Unsinn!
    »Ach, was für Feinheiten«, fauchte der Kommissar. »Aber lassen wir das dahingestellt sein. Erzählen Sie mir lieber, Herr Verteidiger, wo Ihr schüchterner Klient das goldene Abzeichen gelassen hat. Hat er sich geschämt, es zu tragen?«
    »Genauso ist es.« Der selbsternannte Advokat nickte unerschütterlich. »Ja, er hat sich geschämt. Was steht denn auf dem Abzeichen geschrieben?«
    Coche linste hinunter auf sein Revers.
    »Gar nichts steht da geschrieben. Nur die drei Anfangsbuchstaben der Schiffahrtsgesellschaft ›Jasper-Arthaud Partnership‹.«
    »Eben.« Fandorin zeichnete die drei Großbuchstaben in die Luft. »J-A-P. Also ›Jap‹. Das klingt wie ›Japs‹, der verächtliche Spitzname, mit dem die Ausländer die Japaner bezeichnen. Würden Sie, Kommissar, auf der Brust ein Abzeichen tragen, auf dem ›Froschfresser‹ geschrieben steht?«
    Kapitän Cliff warf den Kopf zurück und lachte schallend. Sogar der sauertöpfische Jackson und die affektierte Miss Stomp lächelten. Die roten Flecke im Gesicht des Japaners wurden größer.
    Coches Herz verkrampfte sich in einer unguten Vorahnung. Seine Stimme klang heiser: »Hätte er das nicht selbst erklären können?«
    »Ausgeschlossen. Schauen Sie, soweit ich es aus den Büchern weiß, liegt der wesentliche Unterschied zwischen Europäern und Japanern in der sittlichen Grundlage des sozialen Verhaltens.«
    »Sehr geklügelt«, bemerkte der Kapitän.
    Der Diplomat wandte sich ihm zu.
    »Keineswegs. Die christliche Kultur beruht auf dem Schuldgefühl. Sündigen ist schlecht, weil man sich hinterher mit Reue plagt. Um Schuldgefühle zu vermeiden, bemüht sich ein normaler Europäer um ein sittliches Verhalten. Genauso trachten die Japaner, nicht gegen ethische Normen zu verstoßen, aber aus einem anderen Grund. In ihrer Gesellschaft spielt die Scham die Rolle des moralischen Wächters. Am schlimmsten ist es für einen Japaner, in eine schmähliche L-lage zu kommen,

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