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Mord auf der Leviathan

Mord auf der Leviathan

Titel: Mord auf der Leviathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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einem geplatzten Luftballon. Aber da klirrte das dumme Eisen, und plötzlich spürte ich mit unglaublicher Schärfe, daß ich nicht ich bin, sondern … Nein, anders. Daß ich nicht nur ich bin, sondern eine Unzahl von anderen Leben. Daß ich nicht irgendein Gintaro Aono bin, dritter Sohn des Chefberaters Seiner Erlaucht Fürst Shimatsu, sondern ein kleines, doch darum nicht minder wertvolles Teilchen eines Ganzen. Ich bin in allem Seienden, und alles Seiende ist in mir. Wie oft hatte ich diese Worte gehört, aber nicht begriffen, erfühlt habe ich sie erst am 15. Tag des 4. Monats im Jahre 11 der Meji-Ära in der Stadt Bombay, an Bord eines riesigen europäischen Dampfers. Der Wille des Allerhöchsten ist wahrlich wunderbar.
    Was ist der Sinn des intuitiv in mir entstandenen Dreizeilers? Der Mensch ist ein einsames Glühwürmchen in der unendlichen Finsternis der Nacht. Sein Licht ist so schwach, daß es nur ein winziges Stück des Raums beleuchtet, und ringsum ist Dunkelheit, Kälte und Angst. Wenn man aber den verängstigten Blick emporhebt von der dunklen Erde (es bedarf nur einer
Drehung des Kopfes!), so sieht man den Himmel mit Sternen bedeckt. Sie strahlen in gleichmäßigem, hellem und ewigem Licht. Du bist in der Finsternis nicht allein. Die Sterne sind deine Freunde, sie werden dir helfen und dich nicht dem Elend überlassen. Und etwas später verstehst du etwas anderes, nicht minder Wichtiges: Ein Glühwürmchen ist auch ein Stern, genauso wie alle übrigen. Die am Himmel sehen auch dein Licht, das ihnen hilft, die Kälte und Finsternis des Alls zu ertragen.
    Mein Leben wird sich sicherlich nicht ändern. Ich werde der sein, der ich war – hektisch, händelsüchtig, Leidenschaften unterworfen. Aber in der Tiefe meines Herzens wird nun stets ein zuverlässiges Wissen leben. Es wird mich in schweren Momenten retten und stützen. Ich bin keine kleine Pfütze mehr, die von einer heftigen Böe über die Welt gepustet werden kann. Ich bin ein Ozean, und kein Sturm, der als alles zerstörender Tsunami über meine Oberfläche fegt, kann die Schätze meiner Tiefen berühren.
    Als ich das alles endlich begriffen hatte und mein Geist sich mit Freude füllte, entsann ich mich, daß die größte Tugend die Dankbarkeit ist. Der erste der Sterne, deren Strahlen ich in der tiefen Finsternis erblickt hatte, war Fandorin-san. Ihm verdanke ich das Wissen, daß ich, Gintaro Aono, der Welt nicht gleichgültig bin und daß das Große Außen mich nicht dem Elend überlassen wird.
    Aber wie soll ich dem Menschen einer anderen Kultur erklären, daß er für immer mein Onjin ist? Dieses Wort gibt es in den europäischen Sprachen nicht. Heute habe ich mir ein Herz gefaßt und mit ihm darüber gesprochen, aber dabei ist wohl nichts Gescheites herausgekommen.
    Ich paßte Fandorin-san auf dem Bootsdeck ab, denn ich wußte, daß er um punkt acht mit seinen Hanteln dorthin kommen würde.
    Als er erschien, eingezwängt in sein gestreiftes Trikot (ich werde ihm sagen müssen, daß für körperliche Übungen anliegende Kleidung nicht so gut geeignet ist wie legere), trat ich zu ihm und verbeugte mich tief. »Was haben Sie denn, Monsieur Aono?« fragte er verwundert. »Warum richten Sie sich nicht wieder auf?« In solcher Haltung zu sprechen war unmöglich, darum machte ich den Rücken gerade, obwohl ich in solcher Situation die Verbeugung länger hätte halten müssen. »Ich spreche Ihnen meine unendliche Dankbarkeit aus«, sagte ich und war sehr aufgeregt. – »Schon gut«, sagte er mit einer lässigen Handbewegung. Diese Geste gefiel mir sehr – Fandorin-san wollte damit das Ausmaß der mir erwiesenen Wohltat vermindern und seinen Schuldner von dem übermäßigen Dankbarkeitsgefühl erlösen. An seiner Stelle würde jeder vornehm erzogene Japaner genauso gehandelt haben. Aber er erzielte den gegenteiligen Effekt – mein Geist füllte sich mit noch größerer Dankbarkeit. Ich sagte, fortan stünde ich ihm gegenüber in ewiger Schuld. »Was heißt schon ewige Schuld«, sagte er achselzuckend. »Ich wollte einfach diesem selbstzufriedenen Puter einen Dämpfer verpassen.« (Puter, das ist ein häßlicher amerikanischer Vogel mit komischer Gangart, erfüllt von dem Gefühl der eigenen Wichtigkeit; im übertragenen Sinne ein eitler und dummer Mensch.) Ich wußte das Taktgefühl meines Gesprächspartners zu schätzen, aber ich mußte ihm unbedingt erklären, wie sehr ich ihm verpflichtet war. »Dank dafür, daß Sie mein wertloses Leben

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