Mord im Garten des Sokrates
Karren, den er hinter sich her zog, war viel zu schwer für ihn.
«Lass mich dir helfen, Bias. Ich löse dich ab!», bot Myson ihm an, aber Bias wehrte ab und zog seinen Wagen mit dem ganzen Stolz des kleinen Mannes weiter. Seine Frau sah ihn an, als wäre er ein dummer Junge.
«Von Phyle ist ein Angriff auf Athen sehr schwer», sagte ich, nachdem wir uns wieder in Marsch gesetzt hatten. Ich kannte die alte Festung einen halben Tagesmarsch von Athen entfernt. Sie lag auf einem kargen Felsen am Meer. Um ihre Mauern herum wuchsen nur Dornensträucher. Dort gab es weder Wasser noch Nahrung; Thrasybulos hätte von dort aus kaum seinen Nachschub organisieren können.
«Ich weiß», sagte Myson, «und Thrasybulos weiß es auch. Bisher hat nur niemand eine andere Möglichkeit entdeckt.»
«Vielleicht gibt es keine», sagte ich.
Es war später Vormittag, als wir Piräus erreichten. Ich war erstaunt, wie voll und wie lebendig die Hafenstadt wieder war. Überall waren Menschen, überall war Handel und Handwerk, und doch hatte sich etwas verändert. Obwohl Chilon es bereits erwähnt hatte, erkannte ich es erst auf den zweiten Blick: Es waren ungewöhnlich viele Athener hier! Da sprachen ein paar Kaufleute miteinander, die ich von der Agora her kannte. Dort arbeitete ein Schmied, dessen Hammerschläge bisher neben Raios’ Haus niedergegangen waren. Die meisten von ihnen winkten uns zur Begrüßung zu. Sie schienen verstanden zu haben, wieso wir geflohen waren, und hießen uns nun als ihresgleichen willkommen.
Chilons Haussklave öffnete uns das Tor und ließ uns alle eintreten. Im Innenhof fand ich Aspasia mit den Kindern. Meine Söhne rannten mir entgegen und küssten mich. Aspasia dagegen schien mir zurückhaltender, als ich erwartet, und dabei doch schöner, als ich sie in Erinnerung hatte. Chilon kam gleich aus dem Haus. Er wunderte sich noch nicht einmal, dass ich neben Myson nun auch noch Bias und seine Frau mitgebracht hatte. Er ließ sofort ein Frühstück für alle Neuankömmlinge auftragen, und bald hatte sich sein Innenhof in einen fröhlichen kleinen Festplatz verwandelt. Wir saßen auf Kissen und Teppichen an vier niedrigen Tischen. Ein gelbes Sonnensegel, das Chilon hatte spannen lassen, spendete Schatten und hüllte uns ein.
Aspasia kniete neben mir und reichte mir die Speisen, wie es sich für eine gute Ehefrau gehört. Nachdem wir die ersten Bissen verschlungen und den ersten Becher geleert hatten, verblassten die Schrecken der zurückliegenden Nacht wie Träume. Der tapfere kleine Bias, mein Lebensretter, lachte und begann ein Lied zu summen über die Freiheit und die Liebe. Die Zwergin, die eben noch verzweifelt über den Verlust ihrer Wohnung gewesen war, küsste ihn und stimmte mit einer herben und kehligen Stimme ein. Mysons Habichtgesicht erhellte sich. Er begann, einen Becher Wein in der Hand, ausführlich zu erzählen, wie Bias uns gerettet hatte, worauf die Zwergin ihren tapferen Mann noch einmal küsste. Sogar Lysias schien ein wenig heiterer als gestern. Nur Aspasia blieb schweigsam.
«Freust du dich nicht, dass ich wieder da bin?», fragte ich sie leise.
«Doch», antwortete sie, aber ihre Lippen blieben spröde und ihre Augen unbeteiligt. Sie war eine Frau, ganz würde ich sie nie verstehen. Um mich abzulenken, drehte ich mich zu Chilon, der gleich am Tisch neben mir saß.
«Du hattest recht», sagte ich, «es sind viele Athener in Piräus. Können sie hier denn ganz unbehelligt leben?»
«Ja, noch geht es», antwortete er aufgeräumt. «Wir leben recht geschützt und frei hier unten. Seitdem die Dreißig die Macht an sich gerissen haben, kommen jeden Tag Athener in Piräus an. Viele wollen mit den Schiffen weiterreisen, lassen sich dann aber bei uns nieder …»
«Wie kommt das?», fragte Myson. Bias beendete sein Lied und wurde auf unsere Unterhaltung aufmerksam.
«Ganz einfach. Kritias hat einen Statthalter eingesetzt», erwiderte Chilon, «aber der ist den ganzen Tag betrunken und lässt uns in Ruhe, solange wir ihn nur mit allem versorgen, was sein Leib begehrt – von Seele will ich bei ihm nicht sprechen. Zehn Soldaten stehen unter seinem Kommando, aber sie sind genauso träge und käuflich wie er. Wir haben uns mit ihnen arrangiert, und so lässt es sich hier im Moment ganz friedlich leben.»
«Habt ihr eure Waffen noch?», fragte Myson. Ich sah ihm an, was er dachte.
Chilon nickte. «Die meisten Waffen, ja», antwortete er. «Charmides hat zwar auch bei uns zum Schein eine Versammlung
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