Mord im Garten des Sokrates
noch für Gartenarbeit.
«Was führt dich zu mir, Nikomachos?», fragte er. «Du wirst kaum mit mir über Philosophie sprechen wollen? Obwohl die Frage, was Gerechtigkeit ist, auch für den Hauptmann der Bogenschützen nicht unbedeutend sein kann und vielleicht immer wichtiger wird?»
«Periander», antwortete ich nur. Sokrates blieb stehen. «Was ist mit ihm?», fragte er besorgt.
«Hast du noch nichts gehört? Sonst verbreiten sich in Athen die schlechten Nachrichten doch wie im Flug. Periander ist tot. Er wurde ermordet.»
Sokrates schloss die Augen. Sein Gesicht verlor seine Heiterkeit, seine Züge wurden bitter. Für einen Moment hielt er sich an einer Hauswand fest, als drohe er zu stürzen. Eine Weile blieb er stehen, wie versteinert. Die Menschen, die an uns vorüberkamen, beäugten den Alten neugierig und misstrauisch. Irgendwo bellte ein Hund, und ein Baby schrie. Der Tod geht in ein Haus. Er nimmt sich still sein Opfer, während das Leben darum herum lärmend weitergeht.
Ich blieb bei ihm und schwieg. Er hielt die Augen geschlossen, seine Lider zitterten leicht. Unmerklich bewegten sich seine Lippen, als spräche er mit sich selbst. Es dauerte lange, bis er sich wieder fasste. Endlich bedeutete er mir, dass wir weitergehen konnten.
«Du mochtest Periander sehr?», fragte ich, nachdem wir die ersten Schritte zurückgelegt hatten.
Sokrates nickte. «Er war ein Schüler. Er hat mir viel bedeutet.»
Wir gingen schweigend weiter. Unwillkürlich hatten wir den Weg zur Agora eingeschlagen. Sokrates’ Augen standen ganz fern, so als suche er etwas am Himmel. Dann begann er zu erzählen und gestand, Periander habe ihm seit einiger Zeit Kummer bereitet. Vom Wesen her an sich fröhlich und ausgelassen, habe er von einem Tag auf den anderen etwas Gehetztes, etwas Zerrissenes bekommen. Seine Fragen nach dem, was richtig oder falsch sei, wurden drängender, und Sokrates’ Antworten befriedigten ihn nicht mehr. Beinahe heftig habe er Sokrates von sich gestoßen, als der ihm gestand, dass sein einziges Wissen am Ende nur darin bestehe, letztlich nichts zu wissen, und Fragen zu stellen seine größte Fertigkeit sei. «Das ist aber nicht genug!», habe Periander ihn angeschrien und wütend ein Fest verlassen, das Charmides, ein enger Freund Perianders, ausgerichtet habe.
«Und hast du ihn nicht nach seinem Kummer gefragt?», wollte ich von Sokrates wissen.
«Doch, mehrfach», gab er mir zur Antwort. «Aber er meinte nur, es sei nichts. Es gehe ihm gut. Ich wusste, dass das nicht stimmte, aber ich konnte ihn nicht zwingen, sich zu offenbaren.»
«Was ist mit seinen Kameraden? Hast du sie gefragt, was mit Periander sein könnte?»
«Gewiss, aber niemandem schien etwas aufzufallen. Als Charmides damals sah, wie Periander sein Fest grußlos verließ, lachte er nur und meinte, der Junge habe Liebeskummer und sei in irgendeinen harmlosen Liebeshandel verstrickt.»
«Und war er das?»
«Nicht, dass ich wüsste», antwortete Sokrates. «Ich hatte das Gefühl, dass er vor einer sehr schwerwiegenden Entscheidung stand. Deswegen hat er so verzweifelt danach gefragt, was richtig, was gerecht oder verwerflich ist. Er wollte wissen, wie er sich verhalten sollte.»
«Hat er dir keine Beispiele gegeben?»
«Nein, tut mir leid. Ich habe ihn danach gefragt, aber auch solchen Fragen wich er aus. Aber eines weiß ich noch: Ich erzählte ihm einmal eine Geschichte. Sie handelt von einem Mann, der seinen Vater vor Gericht brachte, weil der einen seiner Sklaven erschlagen hatte. Was der Vater getan hatte, war falsch, aber die Frage war, ob nicht die Treue zum Vater höher zu achten ist als die Gesetze der Stadt.»
«Und was sagte Periander?»
«Er entschied sich für die Stadt … aber er kämpfte wochenlang mit der Antwort.»
Wir gingen weiter, bis wir zur ersten Stoa kamen. Sokrates wurde teils freundlich, teils höhnisch begrüßt. Einige schnitten ihn ganz offensichtlich, was ihn aber nicht weiter kümmerte. Ich bat ihn weiterzugehen, damit wir den Marktplatz schnell hinter uns hätten. Hier waren zu viele Augen und Ohren auf uns gerichtet. Erst als wir an der Münzstätte vorbeikamen, sprach ich weiter.
«Wann hast du Periander zuletzt gesehen?», fragte ich. «Das war bei diesem Gastmahl. Es ist höchstens zwei Wochen her.»
«Und was hast du vorgestern Abend gemacht?», versuchte ich ganz beiläufig zu fragen.
«Ich war zu Hause. Vorgestern musste ich die Fassade neu kalken. Ich hatte es Xanthippe schon vor einem Jahr versprochen, und
Weitere Kostenlose Bücher