Mord im Garten des Sokrates
Wagenrennen, den Faust- und Ringkampf – und den Wettlauf, Perianders so glückliche Disziplin.
«Ich dachte immer, du seist ein Gegner der Demokratie», gestand ich Sokrates, während wir im Schatten der Propyläen standen und unsere Augen über die Heiligtümer der Akropolis schweifen ließen. «Habe ich dich nicht in vielen Vollversammlungen reden und die Führer der demokratischen Partei angreifen hören?»
«Gewiss», antwortete er, «aber nicht als Gegner der Volksherrschaft. Hast du nicht bemerkt, wie oft junge Adelige so tun, als wären sie die Sprecher der einfachen Leute, nur um deren Stimmen für eine Sache zu bekommen, die am Ende nur ihnen, aber sicher nicht den einfachen Leuten nutzt? Das ist beinahe das Erste, was sie in ihren Rednerschulen lernen. Am leichtesten fängt man die Gunst des Publikums mit Schmeichelei, und niemand schmeichelt den Armen nun einmal mehr als ein Reicher, der behauptet, er sei einer von ihnen. Nun, wenn so einer spricht, dann kann es sein, dass ich mich zu Wort melde und ihm ein bisschen zusetze. Aber als ein Freund und nicht als ein Gegner der Demokraten.»
Er hob die Hände und deutete auf die Schätze vor unseren Augen: den gewaltigen Parthenon, das anmutige Erechtheion mit den marmornen Frauengestalten, die den Balkon des kleinen Tempels tragen, auf die zahllosen Skulpturen, Tabernakel und Altäre, die diesen Ort heiligen.
«Auch das hat die Demokratie hervorgebracht», sagte er, «und ich bin sicher, man wird diese Tempel und Statuen noch in Tausenden von Jahren bewundern, wenn die Farbe auf ihrer Marmorhaut längst verblasst ist und da, wo heute Sparta steht, nur noch Unkraut wuchert.»
«Hast du mit Periander ebenso gesprochen?», fragte ich ihn.
«Oh ja, natürlich», antwortete Sokrates, «in fast den gleichen Worten.»
«Und hast du ihn überzeugt?»
«Das weiß ich nicht. In einigen Punkten gewiss. Er fand die Idee, Fremde könnten schutz- und rechtlos sein, genauso unerträglich wie ich. Aber sonst? Er hat mir zugehört und genickt, aber er war jung und vielleicht auch ein wenig hochmütig. Er glaubte vielleicht doch, jemand wie er könne zusammen mit seinen gebildeten Freunden den Staat besser führen als das einfache Volk, das nicht lesen oder schreiben kann. Aber wir haben später nicht mehr darüber gesprochen. Das war vielleicht falsch von mir, aber ich wollte seinen Blick auf wesentlichere Dinge lenken. Ich sah ihn nicht als Politiker. Dazu war er zu aufrichtig und zu weich.»
«Als was hast du ihn gesehen?», fragte ich.
«Ich dachte, er würde ein Dichter werden, später einmal …»
Sokrates sprach nicht weiter. Er legte die Hand über die Augen. Ich weiß nicht, ob als Schutz vor der Sonne oder weil er weinte. Sein Blick ging wieder zum Parthenon.
«Was ist, sollen wir hineingehen?», fragte er, nachdem er das Bild des Tempels in sich aufgesogen zu haben schien. «Ich war schon lange nicht mehr hier oben. Ich wollte meiner lieben Freundin in ihrem Haus gerne wieder einmal einen Besuch abstatten.»
«Wenn du möchtest», antwortete ich.
Wir gingen gemeinsam um den Tempel herum. Der Haupteingang liegt zur aufgehenden Sonne hin. Vier junge Priester mit strengen Gesichtern standen auf den Stufen, die zum Inneren des Heiligtums führten. Wir grüßten; sie ließen uns nur misstrauischen Blickes vorbei. Im Inneren war es still und kühl. Unsere Schritte verhallten zwischen den Säulenreihen. Wir waren nicht allein, aber niemand sprach. Keiner wagte es, Athenes Ruhe und Andacht zu stören. Still durchmaßen wir den Vorraum, dann betraten wir die Cella, die den größten Reichtum der Stadt hütet. Und hier stand sie vor uns: die leibhaftige Göttin in ihrer elfenbeinernen Gestalt, zart und gewaltig zugleich. Sie nahm den ganzen Raum bis hin zur Decke ein. Ihr jungfräulicher Körper war mit Edelsteinen gespickt und in einen aus Gold gesponnenen Mantel gehüllt, so schwer, dass er einen Teil des Athener Kriegsschatzes bildete. Auf ihrem Haupte thronte der dreifach geschmückte Helm, in ihrer rechten Hand der geflügelte Siegesgott, und neben ihr im Schutz des Schildes wartete die Schlange, bereit, sich sofort auf uns zu stürzen und uns zu verschlingen. Athenes Augen dagegen sahen mild zu uns herab, und zart war ihr Gesicht, das bald dem Knaben, bald dem Weibe glich.
Sokrates trat vor die Göttin, und mit einer Anmut, die ich seinem älteren und ein wenig plumpen Körper niemals zugetraut hätte, verneigte er sich vor ihr.
Als Sokrates später zum Tode verurteilt
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