Mord Im Kloster
zuging. Abt Thomas musste ihn darüber aufklären.
John Sandys hatte Angst. Wenn er seine Einkünfte für das Jahr nachrechnete, wusste er, dass er es nicht schaffen würde. Im Herbst würde auch noch das Baby kommen. Dann mussten sie in noch elenderen Verhältnissen leben. Wieder würden sie herumziehen, wie schon so oft, mit allen seinen Habseligkeiten im Ranzen, den Hämmern am Gürtel, die Eisenpike als Spazierstock. Sie würden an kleinen Prioreien anklopfen und auf die Gastfreundschaft von Klosterbrüdern angewiesen sein. Vielleicht fand er eine geächtete Schinderstelle in einem Steinbruch. Warum war die Welt so eingerichtet, dass ehrliche Arbeiter mit guter Ausbildung kein Auskommen fanden?
Die eisenbeschlagene Eichenholzkiste, die ihm ein dankbarer Prior aus Sussex nach einer guten Arbeit geschenkt hatte, war leer. Darin hatte einmal sein weniges Hab und Gut gelegen. Er hatte es nach und nach verkaufen müssen. Auch in seinem Geldsäckchen, das er um den Hals trug, befand sich kein einziger Pence mehr, alles, was der Tempel ihm zahlte, war längst ausgegeben. War es da nicht besser, wenn er den Auftrag annahm?
Aber dann wurde er vielleicht mitschuldig am Tod von vielen Menschen.
John dachte an seine Frau und schlug die Hände vor das Gesicht. In welche Lage brachte er sie! Hätte er nicht sofort zum Präzeptor des Tempels gehen und Alarm schlagen müssen? Stattdessen hatte er das Geld angenommen. Und zum ersten Mal seit drei Jahren konnte er Jenny wieder etwas schenken. Er hatte ihr ein leuchtend rotes Haarband mit einem aufgenähten Bernstein gekauft. Jenny war so glücklich gewesen, dass sie sofort mit ihm geschlafen hatte. Aber jetzt saß John tief in der Sache drin. Die Mächte würden ihn nicht mehr aus den Klauen lassen.
John stellte sich das Szenario vor, das sie von ihm verlangten. Die Stirnseite mit dem Rosettenfenster musste zusammenbrechen. Von der Apsis im Osten bis zum Portal im Westen sollten daraufhin die Wände bröckeln. Sicher würden schwere Balken des Dachstuhls den Halt verlieren und herabstürzen, Dreiecke aus Balken und Streben, ganze Rundbögen, Mauerwerk würde einbrechen. Die Schönheit dieser Kirche, die er renovieren sollte, sollte unter Schutt und Staub versinken.
Konnte er das wirklich verantworten?
Nein! Niemals!
Aber wenn er es nicht tat, dann kämen sie und verlangten das Geld zurück. Es war sogar möglich, dass sie ihn töteten.
Oder Jenny!
John ahnte, dass sie keine Skrupel kannten. Oder sie warteten ab und vergriffen sich dann an dem Kind!
Nein, es gab keinen Ausweg. Er musste tun, was sie verlangten. Aber warum wollten sie es überhaupt? Welcher Hass trieb sie an? Er verstand es nicht. Es musste etwas mit den Verhältnissen in Frankreich zu tun haben. Vielleicht mit dem Tempel in Paris, den John aber nicht kannte. Sie hatten ausdrücklich davon gesprochen, dass Henri de Roslin nicht unbeschadet davonkommen durfte. Er musste für alles verantwortlich gemacht werden. Wegen seines Geizes, wegen seiner Anweisung, an wichtigen Sicherungsmaßnahmen in der Kirchenbaustelle zu sparen. Wegen der Geldgier des Tempels überhaupt.
John Sandys hätte gern gesagt, das alles ginge ihn überhaupt nichts an. Aber es war zu spät. Sie betrachteten ihn längst als einen Teil ihres Plans.
John sah vor seinem Auge, wie ein ganzer Berg ins Rutschen geriet. Ein Berg aus Schlamm und Schutt. Aber auch ein Berg aus Problemen, die gar keine feste Form hatten. Aber wie auch immer – es war ein Berg, der ihn und Jenny verschlingen würde. Es sei denn…
John wusste, es gab eine Hoffnung. Einen Ausweg konnte er das nicht nennen, was sich da in seine Gedanken geschlichen hatte. Aber es war ein kleines Licht.
Er wischte sich die Tränen aus den Augen. Jetzt war keine Zeit, um zu resignieren. Er musste an Jenny und das Kind denken. Und die kleinste Chance nutzen, die sich ihm bot.
Henri de Roslin hielt die quälenden Gedanken nicht mehr aus. Er beschloss, in der Nacht die Tempelkirche aufzusuchen. Etwas musste oben auf den Baugerüsten vor sich gehen.
Henri trat um Mitternacht leise aus seinem Zimmer. Die Brüder schliefen. Der Vollmond ließ genug Licht ein, um sich im Dunkeln zu orientieren. Henri überquerte den Hof im Schatten der Mauerfassaden. Es war wieder kälter geworden, Henri erschauerte im Nachtwind und hüllte sich in seinen Umhang. Er beeilte sich, die Kirche durch den Seiteneingang zu betreten.
Er blickte am lockeren Übereinander der Geschosse empor.
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