Mord Im Kloster
Was verbarg sich dort oben? Durch die Obergaden strömte mildes, gelbes Mondlicht ein. Es war still. Nur hin und wieder knisterte irgendetwas. Wahrscheinlich Mäuse, dachte Henri.
Er verließ die Fußpunkte der Arkaden und begann die Leitern an der nördlichen Wand emporzusteigen. Die Leitern schwankten in ihren Verankerungen. Über seinem Kopf schwebte das Hochschiffgewölbe wie ein künstlicher, dunkelblauer Himmel, die Strahlenbündel der Kreuzrippen glänzten, als seien sie frisch angestrichen. Henri bemerkte, dass die Grabdenkmäler am Altar im Mondlicht Schatten warfen, so, als wollten die Toten darin auf sich aufmerksam machen. Das große Rosenfenster der Westfassade ließ genug Licht ein, um alles im Inneren mit einer seltsamen Helligkeit zu beleben. Das Gitterwerk der Wände schien zu tanzen. Henri kam zum Bewusstsein, dass moderne Kirchen höher, länger und vor allem heller waren als die alten – in diesem Moment kam ihm das zugute, um einen verhängnisvollen Fehltritt zu vermeiden.
Was für eine Nacht!, musste er denken. Etwas Besonderes lag in der Luft.
Henri blickte empor. Er hatte das oberste Baugerüst bald erreicht. Für einen Augenblick übernahm er den Blick der Baumeister. Warum stürzte die gewaltige Kuppel der Kirche nicht ein? Das zentrale Kirchenschiff war viel zu hoch. Das Fenster an der Stirnseite viel zu groß. Die Säulen viel zu filigran. Was trug die schwere Last des Daches aus Holz und aufgenagelten Bleiplatten? Die Mauern mussten sich doch alsbald nach außen wölben und dann unter Donnergetöse zusammenbrechen! Vielleicht bewirkten die niedrigeren Seitenschiffe aus festem Stein mit dem Pultdach, dass die Last abgefangen wurde? Das Problem bei diesem mächtigen Zentralbau blieb jedenfalls die mächtige Kuppel der Rotunde. Die Kirche ahmte Christi Grabeskirche in Jerusalem nach. Sie war also auf sicheren Fundamenten gebaut.
Henri wurde abgelenkt. War da oben jemand? Er hatte eine Bewegung gesehen. Wahrscheinlich wieder nur Mäuse. Oder ein Marder, der in den Zwischenwänden hauste. Im Tempel gab es viele Marder, die durch nichts zu vertreiben waren und nachts zu rumoren begannen.
Henri ging Schritt für Schritt weiter. Dann roch er es. Es war eindeutig Rauch. Er kniff die Augen zusammen. Nirgendwo war ein Feuer zu erkennen. Vielleicht kam der Geruch von draußen, wo aus den Kaminen der Rauch von Holzfeuern drang. Henri blickte durch eines der Fenster hinaus. Nein, die Brüder schliefen längst, und die Kamine waren gelöscht.
Dann erblickte er vor sich ein kleines, flackerndes Licht.
Es kam aus einem Öllämpchen. Lautlos trat er näher. Das Licht wurde heller, blieb aber hinter einem Trog verborgen, in dem Schutt lag. Im Schein des Lämpchens sah er plötzlich zwei nackte Leiber. Sie bewegten sich auf einem einfachen Lager. Henri durchfuhr die Erkenntnis, dass er es mit dem Baumeister und seiner Frau zu tun hatte. Er verstand, was der Baumeister bei ihrer Begegnung verstecken wollte, es war ihre Lagerstatt aus Decken und Stroh gewesen. Sie lebten hier oben! Und im Moment liebten sie sich, wie es Ehepaare taten.
Henri schloss die Augen und lehnte sich an die kühle Wand. Er wollte den Rückzug antreten. Hier hatte er nichts zu suchen. Dann riskierte er doch einen Blick.
Er sah, wie sich John Sandys muskulöser Körper auf und ab bewegte. Er nahm darunter den hellen Körper Jennys wahr. Er sah ihre vollen, festen Brüste, ihre angewinkelten Schenkel. Ihren wild nach hinten geworfenen Kopf mit den geschlossenen Augen. Jetzt krallte sich eine Hand in Johns Rücken. Er hörte ihr Stöhnen, seine Seufzer, ein Flüstern. Die Körper entspannten sich. Henri war unwillkürlich ganz gebannt von diesem schönen, urtümlichen Anblick. Ein Kind wird zur Welt kommen, dachte er.
Dann fiel ihm ein, dass sie sich in der Tempelkirche befanden. Er musste unbedingt einschreiten. Dies war das Haus Gottes! Was diese beiden Wollüstigen taten, war eine Entweihung, es war Sünde!
Lass sie, sagte eine Stimme in ihm, es sind nur Menschen. Als er sich zurückziehen wollte, stolperte er über eine Bauschüssel. Eine Kanne stürzte um.
»Wer ist da?«
Henri verwünschte seine eigene Ungeschicklichkeit. Er wollte der Frage Johns nichts entgegnen, sondern einfach der Peinlichkeit der Begegnung ausweichen.
Aber dann sagte er doch: »Henri de Roslin. Ich sah Licht. Ich wollte nachsehen.«
Erschreckt hüllte sich Jenny in eine Decke, nur ihre weißen Arme waren noch zu sehen. John erhob sich. Henri
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