Mord im Spiegel
Doktor Haydock hatte sehr bestimmt gesagt, dass sie nicht allein im Haus schlafen solle, denn sie hatte nur eine Tageshilfe, aber… Miss Marple rief sich zur Ordnung. Es hatte keinen Zweck, dem Gedanken nachzuhängen, was wäre, wenn jemand anders als Miss Knight sich um sie kümmern könnte. Als alte Frau hatte man heute keine große Wahl. Treue Dienstmädchen waren aus der Mode. Im Ernstfall konnte man eine ausgebildete Krankenschwester bekommen, die unglaublich viel kostete und schwer zu finden war, oder man konnte ins Krankenhaus gehen. Doch wenn das Schlimmste vorbei war, blieben nur noch Frauen wie Miss Knight, um einen zu pflegen.
Nicht dass irgendetwas mit Frauen vom Typ Miss Knights nicht stimmte – außer der Tatsache, dass man sich ständig über sie ärgern musste. Sie waren voll Sympathie, bereit, ihren Schützlingen freundlich entgegenzukommen, sie aufzumuntern, fröhlich und zuversichtlich mit ihnen umzugehen und sie, überlegte Miss Marple, im Allgemeinen zu behandeln, als sei man ein geistig leicht zurückgebliebenes Kind.
»Aber«, sagte Miss Marple, »ich bin kein geistig zurückgebliebenes Kind, auch wenn ich alt bin.«
In diesem Augenblick stürmte Miss Knight voll Fröhlichkeit ins Zimmer, wie üblich ziemlich heftig atmend. Sie war eine große, etwas schwammig wirkende Frau von sechsundfünfzig Jahren mit sehr gut frisiertem gelbgrauem Haar, einer Brille, einer langen dünnen Nase, mit einem gutmütigen Mund darunter und einem schwachen Kinn.
»Da wären wir!«, rief sie mit lärmender Heiterkeit, die sie für angebracht hielt, um alte Leute aus ihrem grauen Trübsinn zu reißen und aufzumuntern. »Ich hoffe, wir haben ein Nickerchen gemacht?«
» Ich habe gestrickt«, erwiderte Miss Marple mit der Betonung auf dem Ich, »und habe«, fuhr sie, ihre Schwäche beschämt eingestehend, fort, »eine Masche fallen gelassen.«
»Ach, meine Gute«, sagte Miss Knight, »das werden wir gleich in Ordnung bringen, nicht wahr?«
»Sie tun das«, erklärte Miss Marple. » Ich kann es leider nicht.«
Die leichte Schärfe in ihrem Ton verpuffte ziemlich wirkungslos. Wie gewöhnlich war Miss Knight voll Hilfsbereitschaft.
»So«, sagte sie kurz darauf. »Das hätten wir, meine Gute. Der Fehler ist behoben.«
Obwohl Miss Marple es völlig richtig fand, dass die Frau des Gemüsehändlers sie »meine Gute« – oder sogar »meine Beste«, nannte, oder die Verkäuferin aus dem Schreibwarengeschäft, ärgerte sie sich jedes Mal entsetzlich, wenn Miss Knight es zu ihr sagte. Noch so eine Sache, die alte Leute dulden mussten. Sie bedankte sich höflich bei Miss Knight.
»Und jetzt gehe ich ein kleines bisschen bummeln«, sagte Miss Knight spaßhaft. »Bleibe nicht lange.«
»Bitte, Sie brauchen sich nicht zu beeilen«, antwortete Miss Marple höflich und ernst.
»Nun, ich möchte Sie nicht zu lange allein lassen, meine Gute, damit Sie nicht anfangen, Trübsal zu blasen.«
»Sie können ganz beruhigt sein. Ich fühle mich sehr wohl. Vielleicht mache ich ein Schläfchen.« Miss Marple schloss die Augen.
»Sehr schön, meine Gute. Soll ich Ihnen etwas mitbringen?«
Miss Marple öffnete die Augen wieder und überlegte.
»Sie könnten bei Longdon fragen, ob die Vorhänge fertig sind. Und mir vielleicht noch einen Strang blaue Wolle bei Mrs Wisley holen. Und eine Schachtel Johannisbeerpastillen aus der Apotheke. Und tauschen Sie bitte in der Bibliothek mein Buch um, aber lassen Sie sich nur etwas geben, das auf meiner Liste steht! Der letzte Roman war fürchterlich. Ich konnte ihn nicht lesen.« Sie hielt »Frühlingserwachen«, hoch.
»Ach, mein Gute, Sie mochten es nicht. Ich dachte, Sie würden begeistert sein. So eine entzückende Geschichte!«
»Und wenn es Ihnen nicht zu weit ist, könnten Sie noch bei Halletts vorbeischauen und fragen, ob sie einen Schneebesen haben – aber nicht den zum Drehen, Sie wissen schon.«
Miss Marple wusste genau, dass Halletts keine Schneebesen hatte, aber es war der Laden, der am weitesten entfernt war.
»Hoffentlich ist es Ihnen nicht zu viel – «, murmelte sie.
»Selbstverständlich nicht. Es freut mich, wenn ich Ihnen einen Gefallen tun kann.«
Miss Knight kaufte für ihr Leben gern ein. Es war das Salz der Erde für sie. Man traf Bekannte und konnte einen kleinen Schwatz halten, man klatschte mit dem Verkäufer und hatte die Möglichkeit, die unterschiedlichsten Dinge in vielen verschiedenen Läden zu betrachten. Und man konnte eine Menge Zeit mit dieser
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