Mord im Tal der Koenige - Historischer Roman
kannte, wie jeder Schreiber, Auszüge aus einigen Traumbüchern. Es waren Sammlungen von Sprüchen, die verrieten, was die nächtlichen Bilder für die Zukunft bedeuteten. Er konnte sich an einen Spruch erinnern, den er oft im Haus des Lebens hatte abschreiben müssen: »Sieht sich ein Mann, wie er Blut trinkt – schlecht; er muss sich einem Kampf stellen.«
Das Traumbuch des Chnumhotep hatte er jedoch nie gelesen. Viele Schreiber und Priester hatten von dem legendären Werk gehört. Es galt unter ihnen als das umfassendste, das weiseste und älteste Buch über Träume. Nur hier, so munkelten manche Priester, habe Thot einem Sterblichen tatsächlich die wahre Bedeutung aller nächtlichen Visionen offenbart. Niemand wusste mehr, wer Chnumhotep wirklich gewesen war; ein Hohepriester des Thot, behaupteten manche, ein Zauberer oder der Arzt eines berühmten Pharaos, andere. Und niemand hatte sein Werk je gelesen.
Rechmire wusste, dass nicht einmal das Haus der Buchrollen im Großen Tempel von Karnak – die größte Bibliothek Thebens und vielleicht im ganzen Lande Kemet, wenn nicht der Welt – das Traumbuch des Chnumhotep aufbewahrte. Wenn sich Kenherchepeschef damit auf seiner Stele darstellen ließ, bedeutete das entweder, dass er einen Schatz besaß, um den ihn die größten Weisen Beider Reiche beneideten, oder, was Rechmire für sehr viel wahrscheinlicher hielt, dass er damit nur symbolisieren wollte, dass er bereit gewesen wäre, Thot auch den größten Schatz zu opfern.
Hunero hatte schweigend gewartet, bis er mit der Betrachtung der Stele und seinen Überlegungen fertig war, dann geleitete sie ihn in den Hauptraum des Hauses.
Hier waren beide Seitenwände und die Decke mit Fresken geschmückt, die Weinranken zeigten, die zu beiden Seiten emporwuchsen und sich an der Decke in der Mitte miteinander vereinigten. Rechmire glaubte für einen Augenblick tatsächlich an die Illusion, in einer Weinlaube zu stehen, so perfekt waren die Malereien ausgeführt. In den Boden aus festgestampftem Lehm waren Splitter aus Glimmer, Feldspat und Lapislazuli eingelassen, sodass er silbern und blau glänzte. Überall standen große hölzerne Truhen mit schweren bronzenen Beschlägen. Manche standen offen und zeigten ihren Inhalt: Hunderte von schmalen, hohen Tonkrügen, in denen Papyrusrollen aufbewahrt wurden.
»Dein Mann besaß eine Bibliothek, auf die jeder Tempel stolz gewesen wäre«, murmelte Rechmire ehrfürchtig.
Hunero zuckte mit den Achseln. »Ich kann nicht lesen«, antwortete sie. »Ich weiß, dass Kenherchepeschef ganz verrückt nach alten Texten war. Manchmal ging er nach Theben und schrieb die Inschriften der alten Tempel mit eigener Hand ab, entweder auf unbenutzten Papyrusrollen oder auf der Rückseite alter offizieller Dokumente und Briefe, für die er keine Verwendung mehr hatte.«
Rechmire dachte an die Stele im Vorraum mit dem Traumbuch des Chnumhotep und an den magischen Spruch gegen Sehakek, den Dämon der Albträume, den der Tote in seinem letzten Moment noch umklammert gehalten hatte.
»Interessierte er sich besonders für Träume?«, fragte Rechmire.
Die Witwe lachte kurz, was er äußerst unpassend fand. »Das würde zu ihm passen«, entgegnete sie. »Kenherchepeschef schlief meistens nur wenig und wenn, dann plagten ihn Albträume. Er hat mit mir aber nie über seine Texte geredet. Und ich kenne ihn ja auch nicht besonders gut, wir waren ja erst vier Monate miteinander verheiratet.«
»Aber du stammst doch aus dem Dorf?«, wollte Rechmire wissen. »Also musst du Kenherchepeschef seit deiner Geburt kennen.«
Hunero lächelte ihn traurig an. »Was bedeutet das schon: ›einen Menschen zu kennen‹?« Sie schwieg für einen Augenblick, bevor sie fortfuhr: »Du hast Recht. Mein Vater war Steinbrecher in der Rechten Wache. Er starb, als ich noch sehr klein war, ich kann mich kaum an ihn erinnern. Er arbeitete in einem Haus der Ewigkeit für einen reichen Mann aus Theben, das auf einer Anhöhe südlich vom Ort der Wahrheit in den Felsen geschlagen werden sollte. Eine große Steinplatte löste sich im Gewölbe und begrub meinen Vater unter sich.«
»Das tut mir Leid«, murmelte Rechmire und senkte den Blick. Dabei dachte er fieberhaft nach: Keinem Arbeiter vom Ort der Wahrheit war es offiziell erlaubt, für jemand anderen zu arbeiten als für den Pharao und seine Familie. Huneros Vater war illegal in jenem Haus der Ewigkeit gewesen, wahrscheinlich abkommandiert von Kenherchepeschef, der damals
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