Mord im Tal der Koenige - Historischer Roman
dann warf er sich auf den Divan und machte sich über ein Brot und einige Granatäpfel her.
Während er noch darüber nachdachte, welchen Schritt er als Nächstes unternehmen sollte, fiel ihm plötzlich ein, dass das Essen vergiftet sein könnte – zu spät. Er starrte den letzten, ebenfalls schon halb verspeisten Granatapfel für einen Augenblick an, als hätte er sich in einen Skorpion in seiner Hand verwandelt, dann zuckte er mit den Achseln und schluckte auch ihn hinunter.
»Schütze deinen Diener, o Thot«, murmelte er. Rechmire hatte langsam den Eindruck, dass er den Beistand der Götter am Ort der Wahrheit stärker nötig hatte als an jedem anderen Platz im Lande Kemet.
Er ruhte sich aus und wagte sich erst wieder aus dem Haus, als die Strahlen von Amuns goldenem Wagen weniger gnadenlos niederbrannten. Er rief einen kleinen Jungen zu sich, der in der Nähe mit einer gelben Katze auf der Straße herumtollte.
»Wo finde ich das Haus des Kenherchepeschef?«, fragte er.
Der Junge starrte ihn mit großen Augen an, dann drehte er sich abrupt um und rannte weg, bis er in einer dunklen Gasse verschwand.
Rechmire starrte ihm verblüfft hinterher. Auch das nächste Kind, das er fragte, rannte einfach wortlos davon. Rechmire fragte sich, warum sie so viel Angst vor diesem Haus hatten – oder vor Kenherchepeschef, selbst nachdem sein Ka ihn verlassen hatte.
Erst eine alte Sklavin, die mit einem großen Tonkrug auf dem Weg zur vor dem Dorftor in den Felsen eingeschlagenen Zisterne war, wies ihm den Weg. Kenherchepeschefs Haus war etwas größer als die anderen, doch genauso gebaut. Vorsichtig klopfte Rechmire an die Tür.
Eine junge Frau öffnete ihm. Sie war höchstens fünfzehn Jahre alt, schätzte er. Ihre auffallend dunklen Augen waren mandelförmig, was sie noch durch zwei aufgeschminkte, fein geschwungene Linien grünlich schimmernden Malachits betonte, die sie über und unter ihre Augen gezogen hatte. Sie hatte hohe Wangenknochen, was ihr Gesicht sehr schmal wirken ließ. Ihr dichtes, bläulich schimmerndes schwarzes Haar war kurz geschnitten, ihre Haut war auffallend dunkel – was Rechmire für ein Zeichen von niedriger Herkunft hielt. Sie war sehr schlank und fast so groß wie er.
»Willkommen in meinem Haus, Schreiber des Tschati«, begrüßte sie ihn. Ihre Stimme klang kräftig und angenehm, sie modulierte jede Silbe wie eine geübte Sängerin. »Ich bin Hunero, die Witwe des Kenherchepeschef – und ich habe dich schon erwartet.«
Rechmire folgte der einladenden Geste ihrer langen, feingliedrigen Hände ins Innere und stellte sich vor, wobei er zu seinem Ärger anfing zu stammeln. Er war verwirrt. Rechmire hatte eine in Tränen aufgelöste Witwe erwartet, eine Frau in zerrissenen Trauergewändern, die sich Sand ins Haar gestreut hatte und deren Gesicht von Tränen glänzte. Auch sah er nirgendwo Klageweiber, deren Dienste normalerweise von den Hinterbliebenen für ein paar Deben Kupfer gekauft werden konnten und die den Toten laut beweinten, damit die Götter hörten, dass er in diesem Leben tatsächlich ein guter Mensch gewesen war.
Der Vorraum des Hauses wurde von einer übergroßen Stele an der linken Seitenwand dominiert, die den Hausherrn zeigte, wie er dem ibisköpfigen Gott Thot opferte. Rechmire erlebte seine nächste Überraschung: Seit unzähligen Generationen verewigten Bildhauer und Zeichner an den Wänden und auf Stelen und anderen Monumenten Szenen, in denen ein Mensch einem Gott opfert. Dabei waren alle Einzelheiten durch eine lange Tradition geheiligt. Außer in den Jahren von Dem-dessen-Namen-niemand-nennt hielten sich die Künstler genau an die alten Bräuche, die vorschrieben, wie man einen Gott darstellen musste und einen Menschen – und die Opfergaben. Der Gläubige huldigte dem Gott mit Wein und Weihrauch, mit anderen duftenden Pflanzen, Honigkuchen, Gänsen und allen Arten von Speisen; der Pharao und die hohen Herren opferten Gold und Silber.
Doch Kenherchepeschef hatte den Bildhauer offensichtlich angewiesen, von der geheiligten Tradition abzuweichen: Die Stele zeigte ihn, wie er dem Thot eine Papyrusrolle opferte. Rechmire trat näher, um den Text der Inschrift zu lesen. Er entdeckte sofort die Hieroglyphen für den Gottesnamen und den des Gläubigen, die übliche Opferformel – und dann tatsächlich die genaue Bezeichnung des Opfers. Kenherchepeschef hatte sich verewigen lassen, wie er Thot den vollständigen Text des Traumbuches des Chnumhotep darbrachte.
Rechmire
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