Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
durften ihn nicht kriegen, bevor er den Plan vollendet hatte. Zitternd griff er nach seiner Kleidung, nach seinen Schuhen. Er konnte nur hoffen, dass sie seinen Fluchtweg noch nicht entdeckt hatten …
Da entfernten sich die Schritte wieder, sie wurden leiser, bis sie kaum noch zu hören waren. Vor Erleichterung brach er in Tränen aus. »Danke«, sagte er und wusste genau, wer ihn beschützt hatte. »Danke, danke, danke.«
Er setzte die Petroleumlampe auf den Dielenboden vor dem kleinen Altar ab. Die mit Wasser gefüllte Waschschüssel stellte er daneben. Während er sich hinkniete, griff er nach der Wurzelbürste, tauchte sie ins Wasser und rieb über die befleckten Hautstellen, bis sie bluteten. Die ganze Zeit starrte er auf zwei kleine Holzfiguren, die ihn überallhin begleiteten. Eine von ihnen stellte Odin dar, der ihn auserkoren hatte. Die andere Bernhard Förster, der ihm alles beigebracht hatte, was er für den Kampf wissen musste. Er wollte dem Göttervater und seinem verstorbenen Mentor beweisen, wie viel Mut, Opfersinn und Treue in ihm steckten. Salomon Hirsch war nur der Anfang gewesen. Die Juden Berlins gingen einer schweren Zeit entgegen.
»Erschreckt ist euer Volk«, murmelte er, »dem Tode geweiht sind eure Führer. Zur Entscheidungsschlacht seid ihr nun gerufen.«
»Klein-Sanssouci«
Am nächsten Morgen verließ Otto seine Villa, die einst seinen Eltern als Sommerhaus gedient hatte, über die Terrasse. Vor acht Jahren hatte er das Anwesen gegen die vom Großvater geerbten Anteile am Familienunternehmen, zu dem eine Manufakturwarenhandlung und zwei Eisenhüttenwerke in Schlesien zählten, eingetauscht und es ›Klein-Sanssouci‹ getauft, weil er hier frei von Sorgen leben konnte. Außerdem hatte ihm sein Vater eine großzügige Apanage bewilligt. Zusammen mit seinen Einkünften als Buchautor und Berater der Kriminalpolizei konnte er das Personal und den Unterhalt finanzieren.
Otto erreichte die Spitze des Bootsanlegers und beobachtete, wie der Platzwart des Vereins Seglerhaus am Wannsee ein Wasservehikel mit Mast herüberpaddelte. Mittlerweile leuchtete der Himmel in einem strahlenden Blau. Mit drei bis vier Beaufort wehte ein moderater Wind, der ihre Segel nicht nur gut füllen, sondern ihnen auch etwas Erfrischung verschaffen würde. Otto war davon überzeugt, dass ihr erster Törn ein Erfolg werden würde. Von seinen wackligen Beinen, die irgendwie mit der sich bewegenden Wasseroberfläche zusammenhingen, wollte er sich nicht entmutigen lassen.
»Wo wollen wir eigentlich hinsegeln?«, fragte Moses.
»Über die Havel zum Gut Neukladow«, erwiderte Otto und unterdrückte ein Aufstoßen. »Wir müssen das Alibi von Wilhelm Maharero überprüfen. Der Hausmeister der Malschule sagte mir, dass sich Igraine dort aufhalten würde, um für eine Freundin einzuhüten.«
»Otto, du fragst sie, was du wissen musst, und dann lichten wir wieder den Anker. Wir müssen jede freie Minute zum Training nutzen. Ich bin gespannt, was bei dir noch hängen geblieben ist.«
»Ich auch«, sagte Otto und rülpste, was ihm etwas Erleichterung verschaffte.
In diesem Moment legte der Bootswart längsseits an. Mit Hanftauen machte er das Segelboot fest und kletterte auf den Anleger. »Da ist das gute Stück«, sagte er. »Frisch aus der Werft in Blankenese.«
Der Unterwasserteil war mit einer kupfergrünen Patentfarbe gestrichen, die noch eine Handbreit über der Wasserlinie ragte. Das übrige Boot war mit englischem Klarlack überzogen worden, sodass sich die hellbraune Farbe des Holzes überall zeigte. Es hatte keine Kajüte, dafür einen offenen runden Sitzraum. Die Segel waren bereits angeschlagen. Im Masttop wehte der Vereinsstander, ein weißes Balkenkreuz, hervorgehoben durch schwarze und rote Felder.
»Ich hab Ihnen noch einen Chester-Anker, zwei mit Korkkohle gestopfte Rettungswesten und einen Schwabber aus altem Tauwerk, mit dem Sie die glatten Flächen wischen können, hineingelegt«, sagte der Bootswart. »Geht’s Ihnen nicht gut?«
»Ausgezeichnet«, erwiderte Otto tapfer. »Damit meine ich vor allem die Korkwesten. Hat das Boot bestimmte Eigenschaften, die wir beim Segeln beachten müssen?«
»Es handelt sich um ein ganz normales Schwertboot. Professor von Trittin sagte mir, dass Sie ein erfahrener Segler sind, aber ich kann Ihnen auch eine Einweisung geben.«
»Das wird nicht nötig sein. Meinen verbindlichsten Dank für Ihre Mühen. Sie können sich jetzt wieder Ihren Pflichten
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