Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
nicht hätte, dann wäre ich längst verhungert.«
Otto nahm Igraine den schwarzen Samtumhang ab und hängte ihn an die Garderobe. Dann rückte er ihr den Stuhl zurecht, sodass sie sich setzen konnte. Er öffnete seinen oberen Jackettknopf und nahm ihr gegenüber Platz.
Schon war der Kellner zurück und sagte: »Det Menü besteht heute aus Möhrenschmarren, Wirsingrouladen mit Hirsefüllung und Vanillepudding mit Erdbeeren.«
Otto sah Igraine fragend an, und die nickte lächelnd. »Das klingt formidabel«, sagte er, »und dazu nehmen wir einen schönen Spätburgunder.«
»Für det gnädige Frollein ooch?«, fragte Alfons erstaunt.
»Ich nehme das Heppinger Heilwasser«, erwiderte Igraine und sagte zu Otto: »Bei der harmonischen Lebensweise kommt es darauf an, auf Stimulanzien wie Zigarren oder Alkohol zu verzichten, um die Sinne nicht zu verderben. Geistige Getränke bringen die schlechten Eigenschaften zutage, sie fördern das Maßlose, das Gewalttätige und das Triebhafte. Die Deutschen sind ein Volk von Trinkern und Jägern. Anders ist es auch nicht zu erklären, dass so viele Bürger Gefallen an Gemälden von blutigen Kriegen, erschossenem Wild und zügellosen Völlereien finden. Nur die Besonnenheit gibt uns die moralische Grundlage, um den Frieden dauerhaft zu sichern.«
»Ich hab es mir gerade anders überlegt«, sagte Otto an den Kellner gewandt. »Ich glaube, ich werde mal dieses Heppinger Heilwasser probieren.«
Die Speisen wurden aufgetragen, und Otto war erstaunt, wie gut der Möhrenschmarren und die Wirsingrouladen gelungen waren. Er äußerte seine Geschmackseindrücke gegenüber Igraine, und sie freute sich sehr darüber. Obwohl sie einige Eigenarten hatte, gab sie eine reizende Gesprächspartnerin ab, die nicht nur gut zuhören konnte, sondern auch einige Anekdoten humorvoll zu berichten wusste. Während Otto ihr beim Reden, Essen und Lachen zuschaute, ertappte er sich mehrfach bei dem Gedanken, was für eine anmutige Frau sie war.
Bis zur Nachspeise verlief ihr Abendessen sehr harmonisch, dann traten zwei Herren mittleren Alters ein, die große Orden – ein weißes Kreuz mit rotem Adler – auf ihrer Frackbrust trugen. Einer von ihnen entdeckte Igraine und trat an den Tisch.
»Fräulein Raab«, sagte er. »Sie sind hier, noch dazu in männlicher Begleitung.«
»Das ist ein Kunde«, sagte Igraine an Otto gewandt. »Herr Ratkofski.«
»Warum antworten Sie nicht auf meine Briefe?«, fragte Herr Ratkofski. »Warum haben Sie sich nicht für die Blumensträuße erkenntlich gezeigt, die ich Ihnen geschickt habe?«
»Ich habe sie alle meiner Vermieterin gegeben«, erklärte Igraine an Otto gerichtet.
»Bei den Sitzungen waren Sie so überaus freundlich, so aufmerksam, und jetzt sind Sie so abweisend. Ich verstehe das nicht. Bin ich Ihnen nicht gut genug?«
»Zu meinen Kunden bin ich immer freundlich, nur verstehen das einige falsch«, erläuterte Igraine an Otto adressiert.
»Für besondere Verdienste ist mir heute der Rote Adlerorden am Band verliehen worden«, sagte Herr Ratkofski. »In nationalen Kreisen genießt mein Name den besten Ruf. Eine Frau mit Ihrem Leumund muss sich doch glücklich schätzen, wenn ich sie überhaupt beachte. Außerdem bin ich Vegetarier geworden, das müssen Sie doch zu honorieren wissen.«
»Ich hoffe, es bekommt Ihnen gut«, sagte Igraine, faltete ihre Serviette zusammen und fuhr an Otto gewandt fort. »Es tut mir so leid, aber er wird keine Ruhe geben. Ich kenne das schon. Bitte lass uns gehen.«
Der Mann schaute verständnislos von Igraine zu Otto und wieder zurück. »Mein Geld war gut genug, aber jetzt tun Sie so, als würden Sie mich nicht kennen. Das ist infam.«
»Wie bitte?!«, sagte Otto, erhob sich von seinem Stuhl und wollte schon einschreiten, aber Igraine schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Nur weil ich ein Porträt von Ihnen gezeichnet habe«, sagte sie, »heißt das noch lange nicht, dass ich auch privat mit Ihnen verkehren muss. Sie haben eine Woche um den Preis gefeilscht, die Zahlung mehrfach aufgeschoben und mir letztlich nur die Hälfte gegeben. Sie haben bestimmt keinen Grund, um sich zu beklagen. Wir sind Geschäftspartner, nicht mehr und nicht weniger.«
»Bah, Geschäftspartner«, machte Herr Ratkofski. »Wenn es mir um das Porträt gegangen wäre, hätte ich einen richtigen Künstler engagiert und keine Kokotte.«
»Jetzt reicht’s«, sagte Otto, packte Herrn Ratkofski am Kragen und drückte ihn gegen die Wand. »Sie
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