Mord im Tiergarten - historischer Kriminalroman
vernebelt?«
Igraine?, dachte Otto. Das war unmöglich. Er verwarf den Verdacht sofort wieder.
»Ich mache mich jetzt auf den Weg ins Polizeipräsidium«, sagte der Commissarius. »Wenn sich etwas Neues ergibt oder ich Ihre Dienste brauche, melde ich mich bei Ihnen. Au revoir! «
»Auf Wiedersehen«, sagte Otto.
Er blickte Funke nach und fragte sich, ob er falsche Schlüsse gezogen hatte. Nein, das Verhalten des Wissenschaftlers, seine ganze Erscheinung und sein Charakter machten ihn verdächtig. Hinzu kamen sein antisemitischer Hintergrund und die Bekanntschaft mit beiden Opfern. So viele Zufälle konnte es nicht geben. Er verrannte sich nicht, er hatte sich seine Objektivität bewahrt. Professor von Trittin musste Dreck am Stecken haben. Auch wenn Commissarius Funke ihn nicht mit weiteren Ermittlungen beauftragt hatte, würde er weitere Nachforschungen anstellen.
Entschlossen marschierte er Richtung Opernplatz, um sich eine Droschke zum Potsdamer Bahnhof zu nehmen.
»Otto«, rief da jemand. »Otto, warte!« Es war Daniele Vicente, der ihm nachgelaufen war. »Bleibt es bei der Einladung zum Essen am Sonntag?«
»Schon«, erwiderte Otto halbherzig.
»Hör mal«, sagte Daniele Vicente. »Ich war damals Studiosus der deutschen Philologie, hab in schäbigen Destillen rumgehockt und zu viel Fusel getrunken. Ich war für jede Abwechslung dankbar, und bei den Antisemiten war immer was los, aber ihre Brutalität hat mich von Anfang an abgestoßen. Ich hab auch nicht lange gebraucht, bis ich begriffen habe, dass sie auf den Holzweg sind. Heute hab ich nichts mehr mit ihnen zu tun. Das kannst du mir glauben.«
»Ehrlich gesagt hätte es mich auch gewundert, wenn du mit diesen Leuten verkehren würdest. Und was hast du mit Professor von Trittin zu schaffen?«
»Seit wir ganz kleine Steppkes waren, sind wir in eine Schulklasse gegangen. Du weißt ja, dass die Hohenzollern meinen Vater als Baumeister aus Rom nach Deutschland geholt haben und er hier in Berlin meine Mutter kennengelernt hat. Wir hatten immer ein offenes Haus, und Emil war oft zu Gast. Er hat Anschluss gesucht. Seine Mutter war früh gestorben, sein Vater hatte kein Interesse an ihm, und die Tante, bei der er aufwuchs, war kaltherzig. Meine Eltern haben ihm ein Zuhause geboten. Später hat er sich revanchiert und mir häufig aus der Patsche geholfen. Er hat mir auch die Arbeit für die Kolonial-Ausstellung beschafft. Ich weiß, dass er manchmal giftig ist, aber wir sind wie Brüder. Was soll ich da machen?«
Daniele Vicente versicherte noch einmal nachdrücklich, dass Professor von Trittin unmöglich am Tatort gewesen sein konnte. Und Otto glaubte ihm. Sie verabschiedeten sich. Dabei fiel Ottos Blick auf die linke Körperseite seines früheren Reisegefährten. Wohl wegen der Hitze hatte er den Hemdsärmel hochgekrempelt und so seinen linken Arm entblößt, den er mit einen weißen Verband umwickelt hatte.
Malschule des Vereins der Berliner Künstlerinnen
Nachdem Otto das Segeltraining am Nachmittag beendet hatte, war Moses sofort mit ein paar Stullen auf seinem Zimmer verschwunden, um Knoten zu üben. Sein Leibdiener zeigte einen leidenschaftlichen Eifer, der ihn mit Stolz erfüllte. Als er mit der Wannseebahn zurück in die Stadt fuhr, phantasierte er von einem triumphalen Sieg gegen Professor von Trittin.
Wenig später beobachtete Otto die Tordurchfahrt, die zur Malschule führte. Gleich müsste Igraine den Unterricht beendet haben und sich auf den Heimweg begeben. Er wollte sie überraschen und fragte sich, wie sie reagieren würde.
Seitdem er sie vor zwei Tagen nach Hause gebracht hatte, hatte er viel über sie nachdenken müssen. Igraine gehörte zu den seltenen fortschrittlichen Frauen, die an Institutionen wie dem Lette-Verein einen Beruf erlernten und eine harmonische Lebensweise mit vegetarischer Kost anstrebten. Sie hatte wenig mit anderen Großbürgertöchtern gemein und lebte jenseits traditioneller Moralvorstellungen, worin viele Männer eine Bedrohung für ihre Dominanz erkannten. Daher war sie häufig Anfeindungen ausgesetzt.
Otto fand es gerade interessant, dass sie ihren eigenen Kopf hatte. Er wollte sie daher nicht nach ihrer Vergangenheit, sondern allein nach ihrem Verhalten ihm gegenüber beurteilen. Und da war sie immer ehrlich gewesen.
Kurz nach sechs Uhr kamen mehrere Zeichenschülerinnen, die Blöcke unter den Achseln trugen, durch die Toreinfahrt. Es dauerte weitere zehn Minuten, bis Igraine folgte. Sie hielt den Kopf
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